[S. 76]
[...] "Sprechen wir also davon, was die Kindheit wirklich ist, und nicht davon, was in den Köpfen der Erwachsenen spukt. Eines ist klar: Der Mythos des Kindheitsglücks blüht nicht deshalb so üppig, weil er etwa die Bedürfnisse der Kinder befriedigte, sondern weil er die Bedürfnisse der Erwachsenen erfüllt. In einer Kultur von entfremdeten Menschen ist der Glaube, daß jeder zumindest einmal im Leben eine von Sorgen und Plackerei freie Zeit erlebt haben soll, nur schwer auszurotten. Es dürfte wohl einleuchten, daß wir nicht erwarten, das Alter würde diese Zeit bringen. Also muß sie bereits hinter uns liegen. Daher der Nebel der Sentimentalität, der jede Diskussion über Kinder und über die Kindheit umgibt. Im Namen der Kinder lebt jeder sienen privaten kleinen Traum aus." [Firestone, Nieder mit der Kindheit! in: Kursbuch 1973, S. 15]
Diese Träume sind besonders ausgeprägt anzutreffen in der Mittel- und Oberschicht. Ganz Industrien profitieren von der sozialen Segregation und der pädagogischen Bevormundung, mit der Kinder in ihrer Kinderrolle gehalten werden. [...]
[S. 77] Wir wissen heute kaum noch, daß die Kindheit eine relativ neue Erfindung ist, daß Kinder vor zwei- bis dreihundert Jahren tatsächlich als kleine Erwachsene behandelt und dargestellt wurden. [...] Im Laufe der Verkindlichung wurde das Kind entmündigt und verschult. Das ging so weit, daß sich die Meinung durchsetzte, Kinder hätten keine Sexualität. Besonders im Bürgertum wurde im Zusammenhang mit der Romantik dem Kind die schmutzige Sexualität mit all ihren Problemen abgesprochen. Es mußte erst ein Sigmund Freud auftreten, um die Diskussion über Existenz und Nichtexistenz der kindlichen Sexualität wieder in Gang zu bringen. [...]
Für den täglichen Arbeitsprozeß wird vom arbeitenden Menschen ein hohes Maß an Disziplin gefordert. Sexuelles Verhalten - so die weit verbreitete Meinung -würde diese Disziplin sicherlich stören. [...]
Für den Bereich der sexuellen Sublimierung bemängeln Kritiker denn auch, daß Freud nicht zwischen notwendiger und zusätzlicher Unterdrückung unterschieden habe. So fordert Kentler eine genaue Differenzierung zwischen der partiellen, kultur-notwendigen Kontrolle der Triebe und der überflüssigen Repression, die - betrachtet man den erreichten Stand der Produktivkräfte in unserem Bereich - abgebaut werden könnte, ohne daß das vielseits befürchtete destruktive Triebchaos entstünde. Der Abbau des "überflüssigen" Teils der Sexualunterdrückung "gefährdet lediglich die hierarchische Herrschaftsordnung und fördert damit die Demokratisierung der Gesellschaft und die politische Mündigkeit des einzelnen." [Kentler, Für eine Revision der Sexualpädagogik, S. 40] Obwohl diese Zielrichtung wohl niemand offen ablehnen kann, wird man den Eindruck nicht los, daß es Gruppen von Menschen gibt, die Mitmenschen wissend in einem Zustand vn Abhängigkeit und politischer Unmündigkeit halten.
[...]
[S. 79]
[...]
Wie das gesamte Sozialverhalten, muß auch das Sexualverhalten schon sehr früh gelernt werden. Nun wird bei uns aber das soziale Lernen im sexuellen Bereich enorm erschwert, teilweise sogar verunmöglicht. Das wird ideologisch begründet mit dem Begriff der Unschuld, dessen Existenz immer nur behauptet und nie belegt wird. Diese Vorstellung von der sexuellen Unschuld suggeriert, das Kind müßte in seiner sexuellen Unberührtheit erhalten bleiben, geschützt werden. Das führt dazu,
Wird die Unterdrückung sehr weitgehend ausgeübt, dann kann daraus bei den Jugendlichen ein Aufbegehren in verschiedensten Formen entstehen. Die Generationskonflikte der jüngsten Vergangenheit dürften darin teilweise ihre Ursachen haben.
Die Unterdrückung und Verneinung der kindlichen Sexualität ist aber bei uns offensichtlich nur oberflächlich "erfolgreich". Dies läßt sich leicht an Bornemans gesammelten Kinderversen ablesen. Die Kinder passen sich dem Druck der Erwachsenen an und erleben und praktizieren ihre Sexualität im Verborgenen, quasi als "sexuelle Partisanen". Kinder der Mittelschicht halten dabei offensichtlich die informellen Normen strenger ein als Unerschichtkinder. "Wer in Gettoschulen unterrichtet, stellt fest, daß es unmöglich ist, die kindliche Sexualität an die Kette zu legen." [Firestone: Frauenbefreiung und sexuelle Revolution, S. 21] [...]