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Spiegel Nr. 31/02.08.99 - Psychologie

Schrille Fanfare

Drei Psychologen behaupten, die psychischen Folgen sexuellen Missrauchs w�rden weit �bersch�tzt. Der US-Kongress verdammte ihre Forschungsarbeit.

Dass einmal der US-Kongress erbittert �ber sie debattieren w�rde, h�tte sich wohl keiner der drei Forscher tr�umen lassen. Eigentlich ging es doch nur um eine Flei�arbeit. Fast ein Jahrzehnt lang hatten sie die Wissenschaftsliteratur zu ihrem Thema gesichtet. 59 Arbeiten nahmen sie sorgf�ltig unter die Lupe, in denen die Seelenlage von zusammen rund 36ooo Sch�lern und Sch�lerinnen an US-Colleges untersucht worden war. Das Ergebnis ihrer "Meta-Analyse" pr�sentierten sie auf 32 eng bedruckten Seiten im "Psychological Bulletin". Das kleine Fachblatt wird von der American Psychological Association (APA) herausgegeben und erscheint in einer Auflage von knapp 6ooo Exemplaren. Entsprechend gering war das Echo: Monatelang blieb jedwedes Feedback aus.

Doch die Studie barg Sprengstoff, der Anfang letzten Monats explodierte: Ohne Gegenstimmen (bei 13 Enthaltungen) verabschiedete das US-Repr�sentantenhaus eine Resolution, in der die Verfasser des Artikels scharf verurteilt wurden. Die Abgeordneten forderten Nachbesserung: "Kompetente Untersuchungen" sollten sich k�nftig "bestm�glicher Methoden bedienen" mit dem Ziel, dass "�ffentlichkeit und Politiker" ihr Verhalten an "akkuraten Informationen" ausrichten k�nnten. Die Emp�rung der Volksvertreter galt einem Reizthema, das wie kaum ein anderes die �ffentlichkeit in Wallung zu bringen vermag - dem sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen. Die Autoren der Studie, die Psychologen Bruce Rind von der Temple University in Philadelphia und Robert Bauserman von der University of Michigan sowie der Erziehungswissenschaftler Philip Tromovitch von der University of Pennsylvania, wollten �berpr�fen, ob sexueller Kindesmissbrauch tats�chlich so schwere und bleibende Sch�den verursacht, wie von den meisten angenommen wird. Das Fazit des Forschertrios: Die Daten, um diese Behauptung wissenschaftlich zu untermauern, sind d�rftig. Die in den 59 Untersuchungen befragten Opfer sexuellen Missbrauchs seien zwar im Durchschnitt "ein wenig instabiler" als ihre Kommilitonen. Insgesamt aber seien bleibende negative Folgen unter jungen M�nnern kaum, bei jungen Frauen nur bei einer Minderheit auszumachen. Mehr noch: Bei einer differenzierten Beurteilung aller Daten lie�en sich die Abweichungen im emotionalen Befinden der Jugendlichen nicht eindeutig auf den sexuellen Missbrauch zur�ckf�hren. Zwar h�tten viele Verfasser der untersuchten Studien ihre Ergebnisse so gedeutet - doch nur, weil sie einen entscheidenden Faktor kaum beachtet h�tten: das famili�re Umfeld. Gerade diejenigen Jugendlichen, die besonders unter den Folgen sexuellen Missbrauchs litten, seien oft in Familien aufgewachsen, in denen Alkoholismus oder Gewaltt�tigkeit auf der Tagesordnung stand. Damit, so die drei Autoren, entstehe eine Gemengelage, in der kaum zu beurteilen sei, welche St�rung auf den sexuellen Missbrauch und welche auf andere Umst�nde zur�ckzuf�hren ist.

Die Durchsicht der Studien ergab sogar, dass von den Befragten, die vor ihrem 18. Lebensjahr, nach der in den USA gebr�uchlichen Definition, "sexuell missbraucht" worden waren, "mehr als 37 Prozent der Sch�ler und 11 Prozent der Sch�lerinnen diese sexuellen Erfahrungen positiv einstuften". Dies sch�rt den Verdacht, dass der Begriff des "Missbrauchs" viel zu undifferenziert verwendet wird. Mediziner und Staatsanw�lte, Politiker und Familienverb�nde in den USA lassen alle Formen sexueller �bergriffe durch Erwachsene gleichwertig in die Missbrauchsstatistik einflie�en. Nach dem Alter der Opfer oder der Handlung der T�ter unterscheiden sie nicht. Nichts verdeutlicht eindringlicher die absurden Folgen dieser Praxis als ein Beispiel der drei US-Forscher. Sie stellen den Fall "eines f�nfj�hrigen M�dchens, das von seinem Vater wiederholt vergewaltigt" werde, dem eines 15-j�hrigen Jugendlichen gegen�ber, der sich "mit einem nicht mit ihm verwandten Erwachsenen sexuell einl�sst", Unstrittig seien die schweren physischen und psychischen Sch�den, die dem M�dchen drohen. Doch ebenso klar sei, dass Fallbeispiel zwei "nur den Bruch sozialer Normen repr�sentieren k�nne, ohne dass dem Teenager daraus ein pers�nlicher Schaden erwachsen" m�sse.

Nachdr�cklich betonen die Autoren, dass sie weder den sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen "billigen", noch dass der Hinweis auf "nicht feststellbare Folgesch�den" einen T�ter von Schuld freispricht. Doch bis zu diesem Bekenntnis drangen offensichtlich nur wenige Leser des APA-Bulletins vor. Lieber zupften sie sich einzelne Aussagen aus der Studie heraus, um sie erbost zu zerpf�cken oder aber begeistert zu feiern. So zitierte die p�dophile "Man-Boy Love Association" Ende letzten Jahres auf ihrer Website die Studie als angeblichen Beweis daf�r, dass "nicht erzwungene generations�bergreifende Erfahrungen junger Menschen oft sehr positiv und vorteilhaft f�r die Betroffenen" sein k�nnten. Diese Erw�hnung im Internet entfachte wenig sp�ter den Volkszorn. Denn als sie im M�rz dieses Jahres davon erfuhr, meldete sich Laura Schlessinger, Amerikas bekannteste Radio-Talkmoderatorin, zu Wort. "Ich konnte einfach nicht glauben, was ich da las", verk�ndete "Dr. Laura" den 20 Millionen H�rern ihrer dreist�ndigen Talkshow, die t�glich von 485 Radiostationen in den USA und Kanada ausgestrahlt wird. Getreu ihrem Motto "Beten, lehren, n�rgeln" gei�elt die 52-j�hrige Moralapostelin seither die Studie als Versuch, die P�dophilie zu "normalisieren", die "hehren Werte der Familie zu untergraben" und das "Rechtssystem umzusto�en".

In die schrillen Fanfarenkl�nge vom "Poster-Girl der christlichen Fundamentalisten" ("Vanity Fair") stimmte unverz�glich ein Chor Gleichgesinnter ein. Auch viele Psychotherapeuten schlossen sich dem Entr�stungsgeschrei an. Schlie�lich hatten sie viel M�he darauf verwandt, die "unterdr�ckte Erinnerung" an sexuellen Missbrauch als Ursache epidemisch um sich greifender "Multipler Pers�nlichkeitsst�rungen" dingfest zu machen. Die populistische Grundstimmung schwappte in den US-Kongress. Prompt klatschte die "Christian Coalition" Beifall: Die Politik habe "die APA f�r die widerw�rtige und sozial unverantwortliche Ver�ffentlichung der Studie" abgewatscht.

Die Verabschiedung der "Resolution 107" fiel den Abgeordneten um so leichter, als auch die APA verschreckt den R�ckw�rtsgang einlegte. In einem Brief an den Sprecher der republikanischen Mehrheit im Repr�sentantenhaus r�umte APA-Direktor Raymond Fowler, der zuvor monatelang die "Rind-Studie" als "gute wissenschaftliche Arbeit" verteidigt hatte, nun kleinlaut ein, der Artikel sei "aufhetzend" und mit der APA-Grundhaltung zum Schutz von Kindern "nicht vereinbar". Dar�ber hinaus sicherte Fowler zu, die bereits ver�ffentlichte und von Gutachtern nicht beanstandete Studie nochmals "�berpr�fen" zu lassen - ein bislang einmaliger Vorgang in der 107-j�hrigen Geschichte des US-Psychologenverbands. Fowler: "Wir sehen ein, dass wir nicht nur den wissenschaftlichen Wert von Artikeln beachten m�ssen, sondern auch ihre Auswirkungen auf die �ffentliche Meinung."

RAINER PAUL