Dass einmal der US-Kongress erbittert über sie debattieren würde, hätte sich wohl keiner der drei Forscher träumen lassen. Eigentlich ging es doch nur um eine Fleißarbeit. Fast ein Jahrzehnt lang hatten sie die Wissenschaftsliteratur zu ihrem Thema gesichtet. 59 Arbeiten nahmen sie sorgfältig unter die Lupe, in denen die Seelenlage von zusammen rund 36ooo Schülern und Schülerinnen an US-Colleges untersucht worden war. Das Ergebnis ihrer "Meta-Analyse" präsentierten sie auf 32 eng bedruckten Seiten im "Psychological Bulletin". Das kleine Fachblatt wird von der American Psychological Association (APA) herausgegeben und erscheint in einer Auflage von knapp 6ooo Exemplaren. Entsprechend gering war das Echo: Monatelang blieb jedwedes Feedback aus.
Doch die Studie barg Sprengstoff, der Anfang letzten Monats explodierte: Ohne Gegenstimmen (bei 13 Enthaltungen) verabschiedete das US-Repräsentantenhaus eine Resolution, in der die Verfasser des Artikels scharf verurteilt wurden. Die Abgeordneten forderten Nachbesserung: "Kompetente Untersuchungen" sollten sich künftig "bestmöglicher Methoden bedienen" mit dem Ziel, dass "Öffentlichkeit und Politiker" ihr Verhalten an "akkuraten Informationen" ausrichten könnten. Die Empörung der Volksvertreter galt einem Reizthema, das wie kaum ein anderes die Öffentlichkeit in Wallung zu bringen vermag - dem sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen. Die Autoren der Studie, die Psychologen Bruce Rind von der Temple University in Philadelphia und Robert Bauserman von der University of Michigan sowie der Erziehungswissenschaftler Philip Tromovitch von der University of Pennsylvania, wollten überprüfen, ob sexueller Kindesmissbrauch tatsächlich so schwere und bleibende Schäden verursacht, wie von den meisten angenommen wird. Das Fazit des Forschertrios: Die Daten, um diese Behauptung wissenschaftlich zu untermauern, sind dürftig. Die in den 59 Untersuchungen befragten Opfer sexuellen Missbrauchs seien zwar im Durchschnitt "ein wenig instabiler" als ihre Kommilitonen. Insgesamt aber seien bleibende negative Folgen unter jungen Männern kaum, bei jungen Frauen nur bei einer Minderheit auszumachen. Mehr noch: Bei einer differenzierten Beurteilung aller Daten ließen sich die Abweichungen im emotionalen Befinden der Jugendlichen nicht eindeutig auf den sexuellen Missbrauch zurückführen. Zwar hätten viele Verfasser der untersuchten Studien ihre Ergebnisse so gedeutet - doch nur, weil sie einen entscheidenden Faktor kaum beachtet hätten: das familiäre Umfeld. Gerade diejenigen Jugendlichen, die besonders unter den Folgen sexuellen Missbrauchs litten, seien oft in Familien aufgewachsen, in denen Alkoholismus oder Gewalttätigkeit auf der Tagesordnung stand. Damit, so die drei Autoren, entstehe eine Gemengelage, in der kaum zu beurteilen sei, welche Störung auf den sexuellen Missbrauch und welche auf andere Umstände zurückzuführen ist.
Die Durchsicht der Studien ergab sogar, dass von den Befragten, die vor ihrem 18. Lebensjahr, nach der in den USA gebräuchlichen Definition, "sexuell missbraucht" worden waren, "mehr als 37 Prozent der Schüler und 11 Prozent der Schülerinnen diese sexuellen Erfahrungen positiv einstuften". Dies schürt den Verdacht, dass der Begriff des "Missbrauchs" viel zu undifferenziert verwendet wird. Mediziner und Staatsanwälte, Politiker und Familienverbände in den USA lassen alle Formen sexueller Übergriffe durch Erwachsene gleichwertig in die Missbrauchsstatistik einfließen. Nach dem Alter der Opfer oder der Handlung der Täter unterscheiden sie nicht. Nichts verdeutlicht eindringlicher die absurden Folgen dieser Praxis als ein Beispiel der drei US-Forscher. Sie stellen den Fall "eines fünfjährigen Mädchens, das von seinem Vater wiederholt vergewaltigt" werde, dem eines 15-jährigen Jugendlichen gegenüber, der sich "mit einem nicht mit ihm verwandten Erwachsenen sexuell einlässt", Unstrittig seien die schweren physischen und psychischen Schäden, die dem Mädchen drohen. Doch ebenso klar sei, dass Fallbeispiel zwei "nur den Bruch sozialer Normen repräsentieren könne, ohne dass dem Teenager daraus ein persönlicher Schaden erwachsen" müsse.
Nachdrücklich betonen die Autoren, dass sie weder den sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen "billigen", noch dass der Hinweis auf "nicht feststellbare Folgeschäden" einen Täter von Schuld freispricht. Doch bis zu diesem Bekenntnis drangen offensichtlich nur wenige Leser des APA-Bulletins vor. Lieber zupften sie sich einzelne Aussagen aus der Studie heraus, um sie erbost zu zerpfücken oder aber begeistert zu feiern. So zitierte die pädophile "Man-Boy Love Association" Ende letzten Jahres auf ihrer Website die Studie als angeblichen Beweis dafür, dass "nicht erzwungene generationsübergreifende Erfahrungen junger Menschen oft sehr positiv und vorteilhaft für die Betroffenen" sein könnten. Diese Erwähnung im Internet entfachte wenig später den Volkszorn. Denn als sie im März dieses Jahres davon erfuhr, meldete sich Laura Schlessinger, Amerikas bekannteste Radio-Talkmoderatorin, zu Wort. "Ich konnte einfach nicht glauben, was ich da las", verkündete "Dr. Laura" den 20 Millionen Hörern ihrer dreistündigen Talkshow, die täglich von 485 Radiostationen in den USA und Kanada ausgestrahlt wird. Getreu ihrem Motto "Beten, lehren, nörgeln" geißelt die 52-jährige Moralapostelin seither die Studie als Versuch, die Pädophilie zu "normalisieren", die "hehren Werte der Familie zu untergraben" und das "Rechtssystem umzustoßen".
In die schrillen Fanfarenklänge vom "Poster-Girl der christlichen Fundamentalisten" ("Vanity Fair") stimmte unverzüglich ein Chor Gleichgesinnter ein. Auch viele Psychotherapeuten schlossen sich dem Entrüstungsgeschrei an. Schließlich hatten sie viel Mühe darauf verwandt, die "unterdrückte Erinnerung" an sexuellen Missbrauch als Ursache epidemisch um sich greifender "Multipler Persönlichkeitsstörungen" dingfest zu machen. Die populistische Grundstimmung schwappte in den US-Kongress. Prompt klatschte die "Christian Coalition" Beifall: Die Politik habe "die APA für die widerwärtige und sozial unverantwortliche Veröffentlichung der Studie" abgewatscht.
Die Verabschiedung der "Resolution 107" fiel den Abgeordneten um so leichter, als auch die APA verschreckt den Rückwärtsgang einlegte. In einem Brief an den Sprecher der republikanischen Mehrheit im Repräsentantenhaus räumte APA-Direktor Raymond Fowler, der zuvor monatelang die "Rind-Studie" als "gute wissenschaftliche Arbeit" verteidigt hatte, nun kleinlaut ein, der Artikel sei "aufhetzend" und mit der APA-Grundhaltung zum Schutz von Kindern "nicht vereinbar". Darüber hinaus sicherte Fowler zu, die bereits veröffentlichte und von Gutachtern nicht beanstandete Studie nochmals "überprüfen" zu lassen - ein bislang einmaliger Vorgang in der 107-jährigen Geschichte des US-Psychologenverbands. Fowler: "Wir sehen ein, dass wir nicht nur den wissenschaftlichen Wert von Artikeln beachten müssen, sondern auch ihre Auswirkungen auf die öffentliche Meinung."
RAINER PAUL