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Menarchealter

aus: Baurmann 1983, S. 74-76

Sexuelle Akzeleration

[S. 74] Der Eintritt der individuellen Pubertät (operationalisiert durch Beobachtung des Zeitpunkt der Menarche und der ersten Ejakulation) scheint eine naheliegende Grenze zum sexuellen Schutz von Kindern und Jugedlichen zu sein. Da es schwierig ist, die erste Ejakulation objektiv festzustellen, soll hier der Zeitpunkt der Menarche bei Mädchen näher betrachtet werden.

Tabelle 2:

Durchschnittliches Menarchealter (Jahr;Monat) an Hand verschiedener
Untersuchungen zu verschiedenen Zeiten

Autor (Jahr)        Region       für das      damaliges       umgerechnetes
                                 Bezugjahr    Menarchealter   Menarchealter
	                                                      (für 1982)

Ley (1938)          Mainz             1937        13;6 	       	  12;0
Bober/Scholz (1944) Deutschland   vor 1944        13;6            12;2
Grimm (1952)        Deutschland       1948        14;6            13;4
Müller-Luckmann	    Niedersachsen      	       	  13;3 	       	  12;3
    (1963)
Tanner (1962)       USA               1955        12;10           12;0
Winter (1962)       BRD        	      1958     	  12;6 	       	  11;8
Steuer (1965)  	    Böblingen      1957-62     	  13;2 	       	  11;6
Blunck (1969)       BRD               1969     ca.13;6            13;2
Schraml (1972)      Mitteleuropa  vor 1972     ca.11;9            11;5
In Tab. 2 werden verschiedene Untersuchungen zur Bestimmung des durchschnittlichen Menarchealters für unsere Region miteinander verglichen. Dabei ist auch ein amerikanischer Wert aufgeführt, wo Mädchen über Jahrzehnte hinweg in [S. 75] einem etwas jüngeren Alter erstmals menstruierten als die Mädchen in Mitteleuropa. "In westeuropäischen Ländern ist für die Zeit zwischen 1830 und 1960 eine deutliche Vorverlegung des Menarchealters festzustellen, die je Dezennium etwa 4 bis 5 Monate ausmacht." (Tanner) Nach dem von Kinsey und Müller-Luckmann wiedeergegebenen Werten aus anderen Untersuchungen erleben amerikanische Mädchen heute im Durchschnitt im Alter von 11;6 bis 12;7 Jahren ihre Menarche.

Eine entsprechende Hochrechnung wurde für unsere Region erstellt. Demnach kann man davon ausgehen, daß Mädchen heute bei uns durchschnittlich im Alter von 11;6 bis 13;6 Jahren erstmals menstruieren.

Wir müssen also annehmen, daß das Alter beim Eintritt der Menarche in der Bevölkerung weit streut und sich zudem während des letzten Jahrhunderts durchschnittlich um 4 bis 5 Monate pro Jahrzehnt nach unten verschoben hat. Wenn der Gesetzgeber beispielsweise 1871 beobachten konnte, daß die durchschnittliche Menarche damals im Alter zwischen 15 bis 17 Jahren eintrat, dann muß er heute wahrnehmen, daß Mädchen durchschnittlich mit 11 1/2 bis 13 1/2 Jahren ihre erste Regelblutung haben. Bei Jungen dürfte sich die Akzeleration analog ausgewirkt haben. Diese körperliche Akzeleration wurde erst während des letzten Jahrhunderts beobachtet, und so konnte der Gesetzgeber von 1871 lediglich die damalige Situation berücksichtigen. Die starken Veränderungen in der körperlichen und sexuellen Entwicklung waren damals nicht zu erwarten. Der Unterschied zwischen körperlicher und seelischer Reife soll hier nicht weitergehend diskutiert werden, weil der psychische Reifestand bisher kaum objektiviert wurde. Wenn oft gesagt wird, zwischen psychischer und körperlicher Reife bestünde bei der heutigen Jugend eine Diskrepanz, so ist diese Aussage spekulativer Art, weil sie bisher nicht empirisch belegt wurde.

[S. 76]

Die strafrechtliche Behandlung solcher Sexualkontakte im Rahmen fester Altersgrenzen bewirkt oftmals ein vielfältiges, individuelles Leid bei "Opfern" und Beschuldigten. Insbesondere in den Fällen, wo das "Opfer" durch die rigide Handhabung dolcher Altersgrenzen geschädigt und damit strukturell viktimisiert wird, stehen solche Auswirkungen im Gegensatz zum Geist des Gesetzes. Das Kind wird in solchen Fällen durch das Gesetz nicht geschützt, sondern erst zum Opfer gemacht. Diesen Sachverhalt kritisiert auch Lautmann in seinem Beitrag über die Kriminalität ohne Opfer.

Aus entwicklungspsychilogischer Sicht wäre dieses Problem nur in den Griff zu bekommen, wenn der Entwicklungsstand und die psychische Belastung des Opfers (der Schaden) individuell beurteilt würde. Eine solche Betrachtungsweise ist allerdings sehr selten in Gesetzestexten und Kommentaren zu finden, widerspricht wohl auch der ursprünglichen Vorstellung von der Funktion formeller Normen.