Wenn sexueller Missbrauch von Kindern in der Presse haeufig thematisiert wird, heisst das noch nicht, dass die Tabus, die den Problemkreis lange Zeit umgaben, endgueltig gebrochen sind. Die Art der Berichterstattung entscheidet darueber, ob die Leserschaft die Informationen erhaelt, die eine rueckhaltlose und ehrliche Auseinandersetzung mit dieser Form der Gewalt ermoeglichen. In einer von Dr. Reinhard Wittenberg betreuten Diplomarbeit am Lehrstuhl fuer Soziologie der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultaet an der Universitaet Erlangen-Nuernberg ist Katrin Hering zu Ergebnissen gekommen, die Zweifel daran wecken, dass die Darstellung in der Tagespresse in juengster Zeit der Thematik gerecht wird.
Sexueller Missbrauch von Kindern ist kein neuzeitliches Phaenomen. Hinweise darauf finden sich schon in der Bibel und im Talmud. Allerdings bildet sich erst im Laufe des 18. Jahrhundert die Meinung heraus, dass sexuelle Handlungen mit Kindern unmoralisch und fuer deren Entwicklung schaedlich sind. In der Folge werden immer wieder vereinzelte, kontroverse Diskussionen ueber sexuellen Missbrauch von Kindern gefuehrt, die ueber Fachkreise jedoch nicht hinausgehen. Vorherrschend bleibt bis in die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein die Vorstellung, dass sexueller Missbrauch von Kindern selten ist, nur in Zusammenhang mit den Gewohnheiten der unteren sozialen Schichten auftritt, und dass Kinder, die von sexuellen Missbrauchserlebnissen erzaehlen, generell nicht glaubwuerdig sind.
In der Bundesrepublik Deutschland wird die Problematik sexuellen Missbrauchs erstmals in den 80er Jahren durch die Frauenbewegung oeffentlich thematisiert. Die Medien greifen das Thema auf und tragen durch eine vermehrte Berichterstattung zu seiner Enttabuisierung bei. In der Folge setzt sich die Meinung durch, dass sexueller Missbrauch haeufig ist, in allen sozialen Schichten vorkommt, und dass Kinder prinzipiell glaubwuerdig sind.
Seit den 90er Jahren laesst sich in der Fachdiskussion um sexuellen Missbrauch wieder eine starke Polarisierung der Argumentation feststellen. Die sogenannte "Gegenbewegung" geht davon aus, dass das Ausmass von sexuellem Missbrauch viel zu hoch eingeschaetzt wird und zum grossen Teil durch falsche Beschuldigungen zustande kommt. Verursacht wuerden diese hauptsaechlich durch unglaubwuerdige Angaben von Kindern und durch unserioes arbeitende Fachleute.
Hier setzt die Diplomarbeit "Presseberichterstattung zu sexuellem Missbrauch von Kindern in den Jahren 1990 bis 1995" von Katrin Hering an. Ziel der inhaltsanalytischen Studie war es, zu untersuchen, inwieweit sich die kontroverse Fachdiskussion in der serioesen Tagespresse nachvollziehen laesst. Grundlage waren 568 Artikel aus SZ und FAZ, die in den Jahren 1990 bis 1995 zu sexuellem Missbrauch veroeffentlicht wurden.
Ueber den betrachteten Zeitraum liess sich insgesamt eine deutliche Verstaerkung der Presseberichterstattung feststellen, die nicht mit einer Zunahme angezeigter Faelle korrespondiert. Der Untersuchungszeitraum liess sich in drei Phasen aufteilen: Die erste Phase von 1990 bis 1991 ist durch einen sehr geringen Umfang der Berichterstattung gekennzeichnet. In der zweiten Phase, die 1991 einsetzt und bis 1993 andauert, werden die Berichte sehr viel haeufiger, und zwar sowohl reine Tatsachenmeldungen ueber angezeigte bzw. vor Gericht verhandelte Missbrauchsfaelle als auch Hintergrundbeitraege, die eher allgemeinere Informationen ueber sexuellen Missbrauch und dessen Rahmenbedingungen enthalten. In der dritten Phase von 1994 bis 1995 findet sich eine nochmals erhoehte Zahl an Presseberichten, allerdings ist dies allein auf die spektakulaeren Einzelfaelle "Flachslanden" und "Worms" zurueckzufuehren. Hintergrundbeitraege werden in diesem Zeitraum dagegen deutlich seltener.
Diese Entwicklung ist als sehr problematisch anzusehen, weil besonders Presse und Fernsehen als Hauptinformationsquellen ueber sexuellen Missbrauch genutzt werden. Fehlen Hintergrundberichte, so fehlt damit auch den Mediennutzer/innen die Basis dafuer, sich eine eigene Meinung zu bilden und einzelne Missbrauchsfaelle einzuordnen.
Zusaetzlich gewinnen in dieser letzten Phase Argumente der Gegenbewegung an Gewicht. Da sowohl Opfer von sexuellem Missbrauch als auch unterstuetzende Personen Argumente der Gegenbewegung als erneute starke Verunsicherung empfinden und dadurch in der Auseinandersetzung mit der Problematik behindert werden, ist auch diese Entwicklung in der Presseberichterstattung als problematisch anzusehen. Langfristig koennte dies eine erneute Tabuisierung von sexuellem Missbrauch nach sich ziehen.