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B.Herrmann

Medizinische Diagnostik bei sexuellem Kindesmißbrauch

Unveröffentl. Manuskript, Kassel (1995)

Allgemeine Informationen

Thesen und Fakten zu sexuellem Kindesmißbrauch


[SKM = sexueller Kindesmißbrauch]

1. Ort des Geschehens: SKM ist kein Phänomen des fremden Mannes von der Straße oder des `Buschspringers´. In etwa 60% handelt es sich um innerfamiliären Inzest (davon etwa die Hälfte durch Väter), in ca. 30% um Bekannte und nur in ca. 6-8% um Fremdtäter

2. Häufigkeit: SKM ist nicht selten oder Ausnahmeerscheinung; nach zahlreichen Untersuchungen liegt die Prävalenz im Prozentbereich und ist damit häufig !! Genaue Zahlen sind wegen schlechter Vergleichbarkeit der Untersuchungen und zum Teil wechselnder Definitionen schwer zu erhalten. Bei Mädchen scheint die Prävalenz 15-25% und bei Jungen 5-10% zu betragen (SKM mit Körperkontakt = `hands-on´-Kontakte; hohe Dunkelziffer )

3. Alter: SKM ist kein primäres Problem von Adoleszenz, sogenannter Verführung durch `frühreife Lolitas´- in 50-60% beginnt der Mißbrauch im Vorschulalter; sogar Säuglinge werden mißbraucht. Wichtig ist die Unterscheidung des Alters bei Aufdeckung und bei Beginn des Mißbrauchs

4. Dauer: SKM ist fast nie ein einmaliger Akt - auch wenn selbst die Opfer das anfangs oft aus Selbstschutz behaupten. In ca. 70% dauert er mehr als 2 Jahre, in ca. 40% 2-4 Jahre, in ca.20% mehr als 5 Jahre - fast immer sind es Wiederholungstaten. Nicht selten werden von einem Täter mehrere Kinder mißbraucht

5. Opfer/Täter: SKM ist nicht nur ein Problem von Mädchen als Opfer (6-25% Jungen betroffen) und Männern als Täter (insgesamt ca. 6-10% weibliche Täter, bei Jungen als Opfer werden bis zu 20% weibliche Täter angenommen)

6. Die Täter sind keine `perversen Irren´ oder `geisteskranke Zombies´ sondern ganz `normale´, sozial angepasste und meist unauffällige Menschen aus allen sozialen Schichten und Berufsgruppen (in letzter Zeit vermehrte Aufmerksamkeit auf Berufe, die mit Kindern arbeiten: Heime, Erzieher etc.)

7. Als Ursache für SKM werden einerseits gesellschaftliche, patriarchalische Machtstrukturen, andererseits eine massive Familiendysfunktion bzw. Beziehungsstörung angesehen, dazu kommt die individuelle Psychopathologie des Täters. Nur ein Teil der Täter wurde selbst mißbraucht. Von Finkelhor stammt ein `Vierfaktorenmodell´:
* emotionale Übereinstimmung zwischen emotional zurückgebliebenem Täter und dem Kind/Opfer,
* abweichendes sexuelles Erregungsmuster des Täters: Erregung durch Kinder
* Versagensängste oder -erlebnisse mit erwachsenen Partnern und Blockierung sexueller Wünsche,
* Aufhebung (moralischer) Hemmungen durch Auslöser wie Stress, Arbeitslosigkeit, Versagensgefühle, Ehe- oder Beziehungsstörungen u.a.

8. Auswirkungen: auch wenn es immer wieder bestritten wird: SKM an sich IST schädlich und hat zum Teil gravierende unmittelbare und Langzeitfolgen, deren Ausmaß von verschiedenen Faktoren bestimmt wird (Grad der Gewaltanwendung, Art und Invasivität des Mißbrauchs, Grad der Nähe zwischen Täter und Opfer, Reaktion auf die Aufdeckung durch die Umgebung u.a.). Häufige Folgen sind langfristig eine gestörte Identitätsentwicklung, Sexualität, Beziehungsfähigkeit und seelische Erkrankungen.

9. Verantwortung: Kinder wollen nicht mißbraucht werden - die Verantwortung liegt immer(!) beim Täter, der z.B. angeblich `kokettes´ Verhalten mißdeutet; andererseits ist kindliches `kokettes´ Verhalten fast immer Folge und nicht Ursache von SKM.

10. Glaubwürdigkeit: Kinder erfinden extrem selten Geschichten über sexuelle Kontakte zu Erwachsenen - dahingehende Äußerungen oder Andeutungen sind immer ernst zu nehmen. Nach zahlreichen gerichtspsychiatrischen Untersuchungen sind Kinder sehr glaubwürdige Zeugen.

11. Was passiert ? SKM beinhaltet alle Formen sexuellen Verhaltens, einschließlich Vergewaltigung (vaginal, anal, oral), Masturbation, Berührungen, Pornographie, Perversionen - laut Fürniß ist "die Realität schlimmer als jede Phantasie".
*MERKE: SKM bedeutet nicht nur Penetration oder Vergewaltigung !

12. Die Psychodynamik von SKM ist sehr komplex und geprägt von den Grundgefühlen Vertrauensverlust, Angst, Schuld- und Schamgefühlen, Ohnmacht, Zweifel an der eigenen Wahrnehmung, Rückzug auf sich selbst und Sprachlosigkeit. Es `verschlägt den Opfern die Sprache´, daher finden sich so selten verbale Hinweise auf SKM. Zentrales Moment ist der enorme Geheimhaltungsdruck (u.a. durch diverse Drohungen des Täters) und das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Täter und Opfer: SKM als "Syndrom von Geheimhaltung und Abhängigkeit" (Fürniß). Es besteht ein starker Loyalitätskonflikt, da die Kinder den Täter gleichzeitig lieben und fürchten. Dem Täter gelingt es fast immer, dem Kind das Gefühl zu vermitteln, es sei selber Schuld am Mißbrauch. Sehr selten kommt es zu sofortigen sexuellen Übergriffen, eher wird das Kind `vorbereitet´, indem es bevorzugt wird, Geschenke erhält und allmählich vom Rest der Familie/Mutter emotional isoliert wird. Es entsteht eine enge und starke Beziehung, in der erst nach und nach die zunächst positiv empfundenen Begünstigungen (auch `Kuscheln´ etc.) mit sexuellen Handlungen verknüpft werden.

13. Erkennen/Diagnose: Die Opfer schweigen aus verschiedenen Gründen (Angst, Geheimhaltungsdruck, Loyalitätskonflikt, Schuld- und Schamgefühlen u.a.). Daher sind nonverbale, indirekte Hinweise, Verhaltensauffälligkeiten, psychosomatische und psychiatrische Erkrankungen und (seltener) körperliche Symptome, oft die einzige Diagnosemöglichkeit. Es gibt kein charakeristisches Mißbrauchssyndrom ! Altersunangemessenes Sexualverhalten ist ein sehr wichtiger, aber nicht völlig spezifischer Hinweis. Die zahlreichen Verhaltensauffälligkeiten und psychischen Symptome sind als Bewältigungsversuch und für die Kinder als psychisch überlebensnotwendig anzusehen.
*MERKE: Wichtigstes Element der Diagnose ist die Aussage des Kindes !

14. Die medizinische Untersuchung von Mißbrauchsopfern ist nicht zwangsläufig erneut traumatisierend, wenn sie qualifiziert und einfühlsam durchgeführt wird. Sie hat jedoch das Potential zu einem schädigenden und grenzüberschreitenden Eingriff und erfordert spezielle Kenntnisse und Erfahrung. Mit guter Dokumentation kann sie die Notwendigkeit von Wiederholungsuntersuchungen reduzieren. Sie dient nicht primär dem Beweis von SKM, kann aber die Verdachtsdiagnose stützen, erhärten oder erst begründen; die Behandlungsbedürftigkeit von Begleitverletzungen oder Geschlechtskrankheiten feststellen. Hauptsächlich jedoch bestätigt sie dem Kind seine körperliche Intaktheit, Unversehrtheit und Gesundheit und kann dadurch enorm erleichtern, sogar `primär therapeutisch´ wirken (im Sinne von Fürniß 1986)
*MERKE: Das Fehlen körperlicher Befunde schließt die Möglichkeit eines sexuellen Mißbrauchs niemals aus !!

15. Aufdeckung: Die Umgebung eines Mißbrauchsopfers reagiert hilflos, ungläubig, panisch oder aggressiv auf den Verdacht oder eine Aufdeckung: das Kind unternimmt oft viele vergebliche Versuche Erwachsenen seine Not auf nonverbaler oder symbolischer Ebene `mitzuteilen´ (ohne `das Geheimnis zu verraten´). Selbst bei den eher selteneren konkreten und klaren Aufdeckungen wird ihm/ihr oft nicht geglaubt. Gerade Mütter mißbrauchter Kinder haben in dieser Beziehung oft Wahrnehmungsprobleme, u.a. deshalb, weil sie überzufällig häufig selbst Mißbrauchsopfer waren und die Folgen der Aufdeckung für sie immer katastrophal sind. Der Verdacht und erst Recht die Aufdeckung lösen eine enorme Krise, Ratlosigkeit und Panik bei allen Beteiligten aus (leider zu häufig auch bei den beteiligten Professionellen !).

16. Die Intervention bei Verdacht auf SKM muß gut überlegt und durchdacht ein - niemals überstürzt handeln oder sofort Anzeige erstatten. Die Folgen für das Kind können katastrophal sein ! Fast alle Opfer werden schon länger mißbraucht und sind `adaptiert´. Daher ist immer Zeit für sorgfältige Vorbereitung der Intervention. Unüberlegtes Handeln und blinder Aktionismus können einen effektiven Kindesschutz unmöglich machen und sind letztlich dafür verantwortlich, wenn Kinder weiter mißbraucht werden. Es ist kontraindiziert primär den Eltern gegenüber den Verdacht auf SKM zu äußern !!! Es ist immer eine Vernetzung und Koordination verschiedener Berufsgruppen nötig (Stichwort "multiprofessionelle Kooperation"), damit Kinderschutz, rechtliche Maßnahmen und Therapie integriert und nicht gegeneinander ausgespielt werden. Die Art und Qualität der Krisenintervention bei SKM kann sowohl zusätzlich schädigende Auswirkungen als auch an sich therapeutische Wirkung haben ("primär therapeutischer Effekt" nach Fürniß).
*MERKE: kein Helfer und keine Berufsgruppe kann allein einen Fall von SKM adäquat bewältigen !

17. Der Forschungs- und Ausbildungsstand im medizinischen Bereich ist in Deutschland extrem schlecht und hinkt dem in USA und England weit hinterher.



SEXUELLER KINDESMISSBRAUCH - DEFINITION

Sexueller Mißbrauch von Kindern ist jede sexuelle Handlung eines Erwachsenen mit einem Kind.
Kinder sind aufgrund ihrer emotionalen und kognitiven Entwicklung und aufgrund des Abhängigkeits- und Machtverhältnisses zwischen Kindern und Erwachsenen nicht in der Lage, diesen Handlungen wissentlich, informiert und frei zuzustimmen (`informed consent´).
Beim Mißbrauch nutzt der Erwachsene seine Machtposition und Autorität aus, um das Kind zur Kooperation zu überreden oder zu zwingen. Er übertritt dabei geltende Familienregeln und gesellschaftliche Tabus.

Entscheidend ist die Absicht des Erwachsenen, sich einem Kind zu nähern um sich sexuell zu erregen oder zu befriedigen.
(Es gibt also keine fließende Grenze zwischen `Kuscheln´, notwendiger körperlicher Zärtlichkeit und SKM !!)

(Modifiziert nach Kempe 1979 und Sgroi 1982)

Thesen zur medizinischen Diagnostik
bei sexuellem Kindesmißbrauch




SKM ist häufig und hat zum Teil gravierende unmittelbare und langfristige Folgen. Daraus ergibt sich eine erhebliche epidemiologische Bedeutung des Themas für die kindliche Gesundheit und Entwicklung. Die medizinische Untersuchung dient nicht in erster Linie (oder nur in Ausnahmefällen) dem Beweis eines sexuellen Mißbrauchs. Sie darf niemals das ausschließliche diagnostische Verfahren sein, sondern sollte in einen multiprofessionellen und multidisziplinären Ansatz integriert sein. Sie muß immer im Bewußtsein ihres Stellenwertes und ihrer Möglichkeiten, vor allem aber in Kenntnis ihrer Grenzen, durchgeführt werden. Der `Goldstandard´ und unverzichtbarer Bestandteil der Diagnose ist immer die Aussage des Kindes. Somit hängt sie stark von der Fähigkeit mit Kindern zu reden ab. Bei qualifizierter und einfühlsamer Vorgehensweise ist die medizinische Untersuchung nicht zwangsläufig traumatisierend, wie vielfach befürchtet wird. Sie hat jedoch das Potential zu einem ausgesprochen schädigenden und grenzüberschreitenden Eingriff, wenn einige wichtige Grundsätze außer Acht gelassen werden. Eine sorgfältig und einfühlsam durchgeführte medizinische Untersuchung mit guter (v.a. fotografischer oder Video-) Dokumentation der erhobenen Befunde kann die Notwendigkeit von Wiederholungsuntersuchungen eliminieren oder stark reduzieren (z.B. im Falle juristisch-forensischer Fragestellungen) und dadurch eventuell sogar traumaverhütend wirken. Nutzen und potentieller Schaden der medizinischen Untersuchung müssen in jeden einzelnen Fall sorgfältig abgewogen werden. Sie ist ausgesprochen wünschenswert, aber nicht unverzichtbar ! Die Häufigkeit von körperlichen Normalbefunden (Adams 1994: "it´s normal to be normal") relativiert ihren Stellenwert, spricht aber nicht dagegen, sie unter gewissen Voraussetzungen durchzuführen.
Bei der derzeitigen hochkontroversen und stark emotionalisierten öffentlichen Diskussion ist eine sachliche und kompetente Stellungnahme von Seiten der Medizin überfällig (Kerns 1993: "cool science for a hot topic").


**OBERSTES GEBOT DER KÖRPERLICHEN UNTERSUCHUNG:**
***********NIEMALS ZWANG AUSÜBEN !!!******************

DIE DURCHFÜHRUNG ERFORDERT:

1. Ein hohes Maß an Sensibilität und Einfühlungsvermögen bezüglich kindlicher Ängste, um eine erneute Traumatisierung zu vermeiden.
2. Die Fähigkeit dem Kind in altersgemäßer(!) Sprache, die mit der Untersuchung verbundenen Abläufe zu erklären und vertraut zu machen.
3. Kenntnis der Besonderheiten der kindlichen Entwicklung (psychisch, intellektuell, emotional, körperlich).
4. Viel Zeit und Ruhe und gewisse organisatorische Vorbereitungen und Voraussetzungen; die Vorbereitung des Kindes dauert in der Regel wesentlich länger als die Untersuchung selbst ! Spekulum- und bimanuelle Untersuchungen (die `übliche´ gynäkologische Untersuchung) werden nicht durchgeführt !!
5. Spezielle Kenntnisse der normalen anogenitalen Anatomie, ihrer Variationen und Veränderungen während der Entwicklung und das Wissen um Bedeutung und Einordnung spezifischer und unspezifischer Befunde (frische und alte Spuren anogenitalen Traumas, deren Heilungscharakteristika, Besonderheiten von Geschlechtserkrankungen im Kindesalter).
7. Die Bereitschaft sich zu medizinischen und psychodynamischen Besonderheiten von sexuellem Kindesmißbrauch aus- und fortzubilden. Insbesondere bei den medizinischen Aspekten handelt es sich um eine relativ junge Wissenschaft.
8. Die Bereitschaft mit anderen Fachgruppen und Organisationen zusammenzuarbeiten und keinen `medizinischen Alleingang´ anzustreben.

WAS SPRICHT FÜR DIE MEDIZINISCHE UNTERSUCHUNG ?

1. Sie kann die Verdachtsdiagnose überhaupt erst begründen, wenn im Rahmen von Vorsorgeuntersuchungen oder bei Konsultationen aufgrund nicht unmittelbar mißbrauchsassoziierter Symptome (Bauchschmerzen, Scheidenentzündung, Harnwegsbeschwerden u.a.) verdächtige Befunde erhoben werden und zu weiterer Untersuchung bzw. Begutachtung führen.
2. Sie kann bei schon bestehendem Verdacht auf SKM die Vermutung erhärten oder die Glaubwürdigkeit bzw. Aussagen des Kindes stützen; keinesfalls schließt jedoch andersherum das Fehlen körperlicher Befunde das Vorliegen eines sexuellen Mißbrauchs aus (wichtig !).
Standardsatz am Ende einer medizinischen Stellungnahme bei unauffälligem Befund sollte immer sein: `Das Fehlen körperlicher Symptome schließt die Möglichkeit sexuellen Mißbrauchs in keinster Weise aus !´

3. Sie kann die Behandlungsbedürftigkeit eventuell vorliegender Verletzungen, Entzündungen oder Geschlechtskrankheiten, aber auch kinderpsychiatrisch oder -psychologisch bedeutsamer Folgen oder Erkrankungen feststellen und die Behandlung durchführen oder an entsprechende Fachkräfte weitervermitteln.

4. Bei gesichertem Mißbrauch können durch die Untersuchung eventuell vorliegende elterliche Sorgen und Ängste bezüglich bleibender Schäden, Krankheiten oder `daß es jemand später mal erkennen könnte´ entlastet und dadurch die Eltern-Kind-Beziehung positiv beeinflußt werden.

5. WICHTIGSTER ASPEKT ist jedoch dem betroffenen Kind seine körperliche Unversehrtheit/Intaktheit/Normalität zu versichern und damit oftmals bestehende ungeheure irrationale Ängste und Phantasien (`mein Körper ist verletzt, kaputt, zerstört, krank, eklig, stinkt, meine Organe verfaulen´) zu erleichtern oder zu beheben. Das kann zur Wiederherstellung eines positiven Körperselbstbildes führen und dadurch den Prozeß der Bewältigung des Mißbrauchs einleiten (`recovery´), somit unmittelbar `primär therapeutisch´ (im Sinne von Fürniß 1986) wirken. Dies trifft auch für den Fall positiver medizinischer Befunde zu, da die enorme Heilfähigkeit anogenitaler Gewebe zur Prognose einer vollständigen Heilung von Verletzungen berechtigt. Kinder- und Hausärzte genießen als `Körperspezialisten´ in der Regel das Vertrauen von Kindern, da sie auch bei anderen gesundheitlichen Belangen und bei anderen Organsystemen definieren was `krank´ und was `gesund´ ist. Dies wirkt sich auf die Durchführung der Untersuchung, aber auch auf die Überzeugungskraft der o.g. Aussagen bezüglich körperlicher Integrität und Normalität günstig aus.

(detailliertere Informationen zur Durchführung der Untersuchung, Befunden, Klassifikation, Differentialdiagnose, und mehr im erwähnten Skript !)

Zahlen und Daten
zu sexuellem Kindesmißbrauch

-Prävalenzstudien-


ergänzt nach Raupp u. Eggers (1993), Bange (1992)

AUTOREN PRÄVALENZ (Mädchen/Jungen)

Bagley (1986) 22%/ -
Finkelhor (1979) 19%/9%
Finkelhor (1984) 15%/6%
#Fritz (1981) 8%/5%
#Keckley (1983) 11%/7%
#Kercher (1984) 11%/3%
#Murphy (1985) 13%/3%
Russell (1983) 54%/ -
Seidner (1986) 11%/5%
#Siegel (1987) 6%/3%
Wyatt (1985) 62%/ -
L.A.Times (1985) 27%/16%
Briere (1988) 15%/-
*Glöer (1988) 24%/16%
#Draijer (1988) 33%/-
*#Bange (1992) 25%/8%
*#Raupp (1993) 25%/6%
/Eggers

Badgley (1984) 34%/13%
KANADA
Baker/Duncan (1985) 12%/8%
ENGLAND
Finkelhor (1986) 27%/10%
USA


Von historischem Interesse
Kinsey (1953) 25%/
Weinberg (1955) 1 : 1 Million/Jahr in englischsprachigen Ländern (!)

* deutsche Untersuchung
# Erhebung mit engerer Definition (`Hands-on-Kontakte´)

Weitere Studien in: Finkelhor (1994) The international Epidemiology of child sexual abuse. Child Abuse Negl 18: 409-417



MERKE:
Die Diskussion um Prozentpunkte ist bei der Auseinandersetzung mit sexuellem Kindesmißbrauch nicht nur nicht hilfreich, sie lenkt auch eher vom Thema ab und verhindert sie. Allein die Tatsache, daß sexueller Kindesmißbrauch im Prozentbereich zu liegen scheint, macht ihn zu einer der häufigsten `Kinderkrankheiten´, auf jedenfall aber zu einem wichtigen epidemiologischen Faktor kindlicher Gesundheit !






Strafrechtliche Aspekte und ärztliche Schweigepflicht



FAZIT: SKM ist ein Offizialdelikt und fällt somit nicht unter die ärztliche Schweigepflicht, da das Kindeswohl als höheres Rechtsgut geschützt werden muß. Eine Verpflichtung zur Strafanzeige besteht jedoch nicht.

Strafrechtliche Aspekte

Die Mißhandlung Pflegebefohlener wird strafrechtlich nach § 223 b und § 176 StGB verfolgt. Bestraft wird danach jeder, der Kinder oder Jugendliche, die in seiner Fürsorge oder Obhut sind, quält oder roh mißhandelt oder vernachlässigt. Unter Mißhandeln versteht der Gesetzgeber das „Erregen erheblicher Schmerzen und Leiden", eine Mißhandlung ist „roh", wenn sie einer „gefühllosen Gesinnung entspricht", d. h. wenn der Täter das Gefühl für das Leiden des Opfers verloren hat. Werden einem Kind über eine längere Zeit hinweg erhebliche körperliche oder seelische Scherzen beigebracht, bezeichnet der Gesetzgeber dieses als „Quälerei".
„Böswillige Vernachlässigung der Aufsichtspflicht" ist ein weiterer Tatbestand des § 223 b StGB. „Böswillig handelt, wer trotz klarer Erkenntnis seiner Pflicht den Fürsorgeberechtigten aus verwerf-lichen Gründen - Haß, Bosheit, Lust am Leiden u.a. - an der Gesundheit schädigt.
Der Gesetzgeber will das Kind vor Übergriffen schützen. Doch es ist sehr fraglich, ob dieser Schutz mit den Mitteln eines Strafverfahrens möglich ist.
Der Präsident des Landgerichtes Essen, Ludwig Serve, schrieb, betroffen durch die Bedingungen in Gerichtsverhandlungen bei sexuellen Mißhandlungen: „Das Strafverfahren bietet keine Mittel, die dem Schutzzweck des § 223 b und § 176 StGB mit Rücksicht auf das Kind gerecht werden. Nicht nur der Täter, sondern auch das Kind wird bemakelt, Strafe und Verfahren behindern durch das Bekannt-werden dieser Taten mögliche Hilfe durch andere Verfahren oder andere Institutionen. Die Bestrafung dürfe nur einen unwesentlichen Einfluß auf die Häufigkeit der Taten haben. Das ist bei einer Dunkelziffer , die im Bereich des Zwanzigfachen liegt, wahrscheinlich." Die Kinder werden zu Doppelopfern.
Es muß genau geprüft werden, ob eine Anzeige im Interesse des Kindes ist oder nicht, ob das Kind z. B. mit dem Wissen leben kann, den Täter ins Gefängnis gebracht zu haben. Niemand, auch nicht das Jugendamt ist verpflichtet, den Täter anzuzeigen, auch wenn sexuelle Mißhandlung strafbar ist. Das Jugendamt muß aber für den Schutz des mißhandelten indes sorgen, damit es nicht erneut Opfer wird. Das Opfer, soweit es sein Alter erlaubt, sollte darüber entscheiden, was mit dem Täter geschieht. Ent-scheidet es sich für ein Strafverfahren, sollte man sich an erfahrene Rechtsanwältinnen wenden, deren Adressen man bei Betroffenenprojekten, Frauenhäusern, Frauenbuchläden und Pro Familia erhalten kann.

Datenschutz

Jeder hat das Recht auf Schutz der Privat- und Intimsphäre. Datenschutz und Schweigepflicht, denen Angehörigen der Heil- und Sozialberufe verpflichtet sind, garantieren dem Einzelnen, daß Fakten und vertrauliche Informationen nicht an die Öffentlichkeit geraten. Doch gerade für die sexuelle Mißhandlung - wie auch für körperliche und seelische Grausamkeit - ist Schweigen der Nährboden der Gewalt, denn das Schweigen Dritter schützt den Täter - nicht das Opfer. Pädagogen/innen, Sozialarbeiter/innen, Mediziner/innen und Juristen/innen müssen deshalb bei Verdacht auf sexuelle, psychischer und physischer Gewalt zusammenarbeiten, um die Opfer wirksam zu schützen.

Daß diese rechtlich möglich ist, hat Carsten Witt festgestellt (Carsten Witt, „Die Zusammenarbeit von Klinikum, Polizei, Staatsanwaltschaft und Jugendamt zur Verfolgung und Verhinderung von Kindes-mißhandlung unter den Gesichtspunkten von Datenschutz und Schweigepflicht" in : Unsere Jugend 5/87, S. 178-190).
Þ Der ein Kind behandelnde Arzt bzw. die Krankenhausleitung sind zur Weitergabe des Krankheits-befundes an Polizei und Staatsanwaltschaft berechtigt, wenn eine wirksame Einwilligung vorliegt oder eine körperliche Mißhandlung, Vernachlässigung oder ein sexueller Mißbrauch eines Mädchen oder Jungen nach Krankenhausentlassung zu befürchten ist. Eine gesetzliche Pflicht zur Weitergabe besteht nicht.
Þ Der Arzt und die Krankenhausleitung haben ebenso das Recht, das Jugendamt zu informieren, wenn eine körperliche Mißhandlung, eine Vernachlässigung oder die sexuelle Ausbeutung eines Kindes zu befürchten ist. Allerdings: Sind diese Voraussetzungen gegeben, so entsteht auf Verlangen des Jugendamtes eine Informationspflicht über Krankheitsbefund und Verdacht einer körperlichen Kindesmißhandlung, Kindesvernachlässigung oder eines sexuellen Übergriffes !
Þ Polizei und Staatsanwaltschaft sind zur Information des Jugendamtes sind zur Information des Jugendamtes bei Verdacht oder Vorliegen einer Körperlichen Kindesmißhandlung, einer Kindes-vernachlässigung oder einer sexuellen Kindesmißhandlung verpflichtet.
Þ Das Jugendamt darf im Rahmen einer Strafanzeige wegen körperlicher Kindesmißhandlung, Vernachlässigung bzw. eines sexuellen Übergriffes alle ihm bekannten Daten an Polizei und Staats-anwaltschaft weitergeben. Eine Pflicht hierzu besteht nicht. Auf Verlangen müssen lediglich Vor- und Familienname, Geburtsdatum Geburtsort, derzeitige Anschrift des Kindes (evtl.) Name und Anschrift des derzeitigen Arbeitgebers weitergegeben werden.
Þ Das Jungendamt darf dem Arzt / Klinikum alle ihm bekannten Daten weitergeben, wenn dies zur Hilfe bei körperlicher Kindesmißhandlung, Vernachlässigung oder sexuellen Übergriff notwendig ist. Eine Verpflichtung besteht für das Jugendamt nur hinsichtlich der Weitergabe von Vor- und Familienname, Geburtsdatum, Geburtsort, derzeitige Anschrift des Opfers und (evtl.) Name und Anschrift des derzeitigen Arbeitgebers.


§ Paragraphen §



§ 170 Sexueller Mißbrauch von Kindern.
(1) Wer sexuelle Handlungen an einer Person unter vierzehn Jahren (Kind) vornimmt oder an sich von dem Kind vornehmen läßt, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren, in minder schweren Fällen mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
(2) Ebenso wird bestraft, wer ein Kind dazu bestimmt, daß es sexuelle Handlungen an einem Dritten vornimmt oder von einem Dritten an sich vornehmen läßt.
(3) 1In besonders schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren.
2Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn der Täter
1. mit dem Kind den Beischlaf vollzieht oder
2. das Kind bei der Tat körperlich schwer mißhandelt
(4) Verursacht der Täter durch die Tat leichtfertig den Tod des Kindes, so ist die Strafe Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren.
(5) Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer
1. sexuelle Handlungen vor einem Kind vornimmt,
2. ein Kind dazu bestimmt, daß es sexuelle Handlungen vor ihm oder einem Dritten vornimmt, oder
3. auf ein Kind durch Vorzeigen pornographischer Abbildungen oder Darstellungen, durch Abspielen von Tonträgern pornographischen Inhalts oder durch entsprechende Reden einwirkt,
um sich das Kind oder einem anderen hierdurch sexuell zu erregen.
(6) Der Versuch ist strafbar; dies gilt nicht für Taten nach Absatz 5 Nr. 3.

§ 174 b. Sexueller Mißbrauch unter Ausnutzung einer Amtsstellung.
(1) Wer als Amtsträger, der zu Mitwirkung an einem Strafverfahren oder an einem Verfahren zur Anordnung einer freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung oder einer behördlichen Verwahrung berufen ist, unter Mißbrauch der durch das Verfahren begründeten Abhängigkeit sexuelle Handlungen an demjenigen, gegen den sich das Verfahren richtet, vornimmt oder an sich von dem anderen vornehmen läßt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
(2) Der Versuch ist strafbar.

§ 180 Förderung sexueller Handlungen Minderjähriger.
(1) 1Wer sexuellen Handlungen einer Person unter sechzehn Jahren an oder vor einem Dritten oder sexuelle Handlungen eines Dritten an einer Person unter sechzehn Jahren
1. durch seine Vermittlung oder
2. durch Gewähren oder Verschaffen von Gelegenheit
Vorschub leistet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
2Satz 1 Nr. 2 ist nicht anzuwenden, wenn der Sorgeberechtigte durch das Vorschubleisten seine Erziehungspflicht gröblich verletzt.
(2) Wer eine Person unter achtzehn Jahren bestimmt, sexuelle Handlungen gegen Entgelt an oder vor einem Dritten vorzunehmen oder von einem Dritten an sich vornehmen zu lassen, oder wer solchen Handlungen durch seine Vermittlung Vorschub leistet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
(3) Wer eine Person unter achtzehn Jahren, die ihm zur Erziehung, zur Ausbildung oder zur Betreuung in der Lebensführung anvertraut oder im Rahmen eines Dienst- oder Arbeitsverhältnisses untergeordnet ist, unter Mißbrauch einer mit dem Erziehungs-, Ausbildung-, Betreuungs-, Dienst- oder Arbeitsverhältnisse verbundenen Abhängigkeit bestimmt, sexuelle Handlungen an oder vor einem Dritten vorzunehmen oder von einem Dritten an sich vornehmen zu lassen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
(4) In den Fällen der Absätze 2 und 3 ist der Versucht strafbar.


Kapitel aus B.Herrmann (1995) Medizinische Diagnostik bei sexuellem Kindesmißbrauch. Unveröffentl. Manuskript, Kassel
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