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Lübke-Westermann D.

Zur Anwendung einer interaktionistischen Psychologie bei der Diagnostik von Sexualstraftätern

MschrKrim 78. Jahrgang, Heft 1, S.3-18 (1995)

Zusammenfassung

Als Ausgangsmodell für die Psychische Diagnostik bei Sexualstraftätern wird ine interaktionistischer Ansatz vorgeschlagen. Die Klassifikation von Sexualstraftätern durch Groth und die Prüfung der Hypothese vom sexuellen Mißbrauch in der Vorgeschichte von Sexualstraftätern werden als Beispiele für Ausdifferenzierungen des Basismodells vorgestellt.

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Um zunächst einen Eindruck von der Größenordnung des Problems zu vermitteln, seien an dieser Stelle Zahlen aus den USA genannt. Nach Furby, Weinrott und Blackshaw (1989) beträgt das Risiko für eine Frau über 16 Jahren, in ihrem Leben Opfer einer Vergewaltigung zu werden, mindestens 1:5. Bezieht man versuchte Vergewaltigungen mit ein, erhöht sich das Risiko auf 1:3. Die jährliche Inzidenzrate für Vergewaltigung oder versuchte Vergewaltigung wird auf ca. 3 % der Frauen im Alter von 17 Jahren oder älter geschätzt. Die Zahlen für sexuellen Mißbrauch von Kindern (Prävalenzraten) betragen 3 - 6 % bei Jungen und 12 - 28 % bei Mädchen. Nach Ellis (1989) wird bei einem Vergleich zwischen Ländern deutlich, daß unter den Industrienationen die USA eine ungewöhnlich hohe Vergewaltigungsrate haben. Bei den angezeigten Straftaten fällt sie dreimal so hoch wie in der BRD aus. Nach Bancroft (1985) scheint darüber hinaus die Zahl der Vergewaltigungen in den USA nicht nur größer zu sein, sondern auch rascher zuzunehmen (sä. Groth, Longo & McFadin, 1982; Ullman & Knight, 1991)

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[S. 10:] "Actually, from a clinical rather than a legal point of view, it makes more sense to regard rape as any form of forcible sexual assault, whether the assailant intends to effect intercourse or some other type of sexual act. There is sufficient similarity in the factors underlying all types of forcible sexual assault - and in the impact such behaviour has on the victim - so that they may be discussed meaningfully under the single term of rape. The defining element in rape is the lack of consent." (Groth, 1979a, p.3)

Seine wesentlichen Positionen seien an dieser Stelle zunächst thesenhaft skizziert.

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4.2 Empirische Überprüfung einer Hypothese

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[S.14:] Beispielsweise vertritt Groth (Groth, 1979a, 1979b) die Auffassung, daß Sexualstraftäter überzufällig häufig selbst Opfer von Sexualstraftaten waren. Diese Beziehung wird auch von Journalisten (z.B. Moor, 1991) gern herausgestellt. Welchen empirischen Rückhalt hat diese These eigentlich?

Aufschluß hierüber gibt ein Übersichtsartikel von Widom (1989), indem diese Hypothese allerdings breiter gefaßt wird (vgl. DiLall & Gottesmann, 1991 und Widom, 1991). Überprüft wird die These "Gewalt bringt Gewalt hervor" ("violence breeds violence") anhand empirischer Untersuchungen aus unterschiedlichen Fachgebieten. Hierzu gehören Psychologie, Soziologie, Kriminologie, Psychiatrie, Sozialarbeit und Krankenpflege. Als Erscheinungsformen von Gewalt werden in dem Überblick körperlicher Mißbrauch, sexueller Mißbrauch, Vernachlässigung und schwere körperliche Bestrafung berücksichtigt. Psychische Mißhandlung wird lediglich am Rande behandelt.

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[S. 15:] Im folgenden werde ich lediglich die Ergebnisse und Schlußfolgerungen wiedergeben, die für unsere Fragestellung relevant sind: Die Hypothese, daß Erwachsene, die als Kinder mißbraucht wurden, ihre eigenen Kinder mit höherer Wahrscheinlichkeit ebenfalls mißbrauchen.

Nach Widom ist der empirische Nachweis dieser Hypothese methodisch problematisch und eingeschränkt durch seltene Verwendung von Kontrollgruppen und eine übermäßige Abhängigkeit von Selbstschilderungen und retrospektiven Daten. (Zur Problematik solcher Datenquellen ist auch ein neuerer Artikel vonLoftus (1993) sehr aufschlußreich.) Bei den Studien über die Beziehung zwischen Mißbrauch, Vernachlässigung und Delinquenz wird besonders die prospektive Studie von McCord (1983) hervorgehoben, die sich über einen Zeitraum von 40 Jahren erstreckt: In 20% der Fälle von Kindesmißbrauch und Vernachlässigung kam es später zur Deliquenz, demgegenüber stand eine Rate von 50% Delinquenz bei abgelehnten Kindern. Nach den retrospektiven Studien wurden 8 - 26% der Delinquenten als Kinder mißbraucht oder vernachlässigt. Dies bedeutet insgesamt: von denen, die mißbraucht wurden, wurde die Mehrzahl nicht delinquent, und von den Delinquenten war die Mehrzahl als Kinder nicht mißbraucht worden.

Bei der Prüfung der Beziehung zwischen Mißbrauch, Vernachlässigung und aggressiven Verhalten bei kleinen Kindern deuten die referierten Studien mit einiger Konsistenz an, daß mißbrauchte Kinder häufiger aggressives und problematisches Verhalten zeigen. Sie deuten außerdem an, daß es sinnvoll ist, zwischen Mißbrauch und Vernachlässigung zu unterscheiden. Es gibt einige Hinweise darauf, daß es sich bei Aggressivität um ein ähnlich stabiles Persönlichkeitsmerkmal zu handeln scheint wie bei der Intelligenz (Olweus 1977, 1979; Farrington, 1978; Robins, 1978). Frühe Aggressivität (im Alter von 8 - 12 Jahren) scheint ein Prädikator für späteres antisoziales Verhalten zu sein.

Obwohl die These von der "intergenerational transmission of violence" fast 30 Jahre als ist, bleibt das Wissen über Langzeiteffekte von Mißbrauch in der Familie nach Widom begrenzt. Methodologische Probleme spielen eine große Rolle. Viele andere Faktoren können als "Störvariablen" auftreten. Die Mehrzahl der mißbrauchten Kinder werden nach den Ergebnissen des Reviews werder allgemein delinquent noch Gewalttäter. Als Kind mißbraucht zu sein, kann das Risiko erhöhen, die eigenen Kinder zu mißbrauchen, delinquent oder gewalttätig zu werden. Diese Beziehung ist jedoch weder geradlinig noch sicher. Die bisherigen Vorstellungen darüber waren offensichtlich zu einfach. [...]

[...] die Relativität der dort gewonnenen Daten zu berücksichtigen. Zu häufig werden beispielsweise die Schilderungen des Täters als "wahre" Abbildungen der Realität behandelt. Dabei wird nicht in Rechnung gestellt, daß es sich bei der forensischen Begutachtung, bei der Behandlung im Strafvollzug aber auch bei einer ambulanten Behandlung unter Auflagen um Situationen unter Zwang handelt. Diese Zwangssituationen haben entsprechende Konsequenzen für das Verhalten aller Beteiligten und wirken sich damit auch massiv auf das diagnostische Ergebnis und die Folgerungen für weitere Interventionen aus.