Die Probleme treten eigentlich erst später auf, wenn dem Kind gesagt wird, es hätte hier etwas Unmoralisches und Unmögliches getan. Dann fängt auch das Kind an, an seiner Fähigkeit zur Zustimmung zu zweifeln. Fragwürdig ist die Bereitschaft, die kindlichen Adressaten sexueller Advancen vorschnell und ausschließlich in einer Täter-Opfer-Optik zu betrachten. Der Sexualpädagoge Georg Neubauer sieht hier eine "Entmündigungssituation für das Kind". Hilfeleistung oder Aufdeckung ohne Einwilligung des Kindes bedeuten, so Neubauer, "wieder einmal eine Grenzverletzung und eine Wegnahme von Entscheidungs- und Handlungskompetenz. Das Stigma 'Opfer' erzeugt den Eindruck, Kinder, Jugendliche und Frauen seien hilflos und müßten beschützt werden, da sie nicht zu wissen scheinen, was für sie richtig und gut ist." Die Autoren vermuten, "daß weniger der Mißbrauch, sondern eher die Opfer-Stigmatisierung von Kindern deren Entwicklung verbaut".
Die Erhebung von Neubauer u.a. zeigt, welche Vorstellung von Mißbrauch die Kinder selbst hegen. Es ist überraschenderweise ein enger Begriff, beschränkt auf Vergewaltigung und nichtgewollte Übergriffe durch Fremde. Die befragten Kinder verfügten über Kriterien, nach denen sie Übergriffe zulassen würden. Sexuelle Avancen gehören in der Untersuchungsgruppe zum Alltag und werden nicht immer negativ oder unangenehm bewertet. "Außerdem vermittelten sie uns, daß sie eine Kompetenz entwickelt haben, um mit alltäglichen Übergriffen umgehen zu können. Die öffentliche und wissenschaftliche Diskussion sollte sich deshalb auch an der Lebenslage von Kindern und Jugendlichen orientieren."
Erst wenn die alten Ideen vom 'asexuellen Kind' und von einer 'Latenzphase' aus unseren Köpfen verschwinden, werden wir einen klaren Blick auf Freiwilligkeit und Selbstbestimmung bekommen. Neubauer u.a. forschen unvoreingenommen und erzielen bemerkenswerte Ergebnisse.
"Gerade in unserer Arbeit konnten wir erfahren, daß schon Kinder unter zehn Jahren Vorstellungen darüber haben, was Sexualität sein könnte und was sie als sexuellen Mißbrauch für sich definieren. Einerseits würden sie sexuelle Übergriffe zulassen, wenn ihnen die Person sympathisch erscheint. [] Andererseits vermitteln uns die Kinder, daß sie sich durchaus in der Lage fühlen, sich diesen Zugriffen zu entziehen."