[Base] [Index]

Paulus J.

Pr�vention durch Verhaftung

DIE ZEIT Nr. 26 (2000)

Psychisch auff�llige Menschen einsperren? In Gro�britannien wird dies erwogen

Michael Stone wusste, dass er gef�hrlich war. Er wollte in eine britische Klinik aufgenommen werden, doch deren �rzte erkl�rten ihn f�r unbehandelbar. Auch sonst konnte er nirgends eingewiesen werden, denn noch hatte er kein Verbrechen begangen. Wie der Independent trocken notierte, erlaubte man ihm stattdessen, "die Landschaft von Kent mit einem Hammer zu durchstreifen". Der verhinderte Patient t�tete eine Mutter und ihre Tochter.

Solche F�lle soll es in Gro�britannien in Zukunft nicht mehr geben. Alarmiert durch die beiden Morde, will die Regierung daf�r sorgen, dass Menschen, von denen eine Bedrohung ausgeht, schon eingesperrt werden k�nnen, bevor sie etwas getan haben. Innenminister Jack Straw m�chte dabei allerdings nicht warten, bis sie selbst an eine Klinikt�r klopfen, sondern will Mitb�rger schon dann einsperren lassen, wenn ein Expertenteam sie f�r gef�hrlich erkl�rt hat.

Wenn es nach Dirty Jack ginge, wie ihn eine Boulevardzeitung nach dem brutalen Filmpolizisten Dirty Harry nannte, k�nnten Menschen dann allein aufgrund ihrer Pers�nlichkeit hinter Schloss und Riegel gebracht werden. Ebenso sollen Kriminelle, die ihre Strafe f�r ein Verbrechen abgesessen haben, aber mutma�lich weiter eine Gefahr darstellen, notfalls f�r immer festgehalten werden k�nnen. Ab Sommer will ein Pilotprojekt im Gef�ngnis Ihrer Majest�t zu Whitemoor herausfinden, wie gef�hrliche Individuen m�glichst fehlerfrei von harmlosen unterschieden werden k�nnen.

Aber geht das �berhaupt? Und d�rfte man Menschen aufgrund einer blo�en Prognose einsperren? Aufgrund einer wagen Auff�lligkeit? In Deutschland sind solche Fragen aus historischen Gr�nden tabuisiert. Schnell k�nnte das Gespenst des "geborenen Verbrechers" und die nationalsozialistische Jagd nach ihm wiederkehren. Hierzulande ist die zwangsweise Unterbringung nur dann gestattet, wenn jemand in allern�chster Zeit "mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit" gewaltt�tig zu werden droht, wie es das Oberlandesgericht Hamm ausdr�ckte. Eine abnorme Pers�nlichkeit allein reicht nicht. Um die aber geht es der linken Regierung des geschichtlich unbelasteten Gro�britannien. Sie hat es abgesehen auf "gef�hrliche Menschen mit schwerer Pers�nlichkeitsst�rung", so die amtliche Formulierung.

Gemeint sind damit Menschen, die man f�r gew�hnlich mit dem schillernden Begriff Psychopathen belegt. Viele Fachleute meiden diesen Begriff oder halten ihn gar nur "f�r ein Etikett, das bei �rzten unbeliebte Patienten bekommen", wie Paul Moran vom Institut f�r Psychiatrie des King's College in London kritisiert. Doch so einfach liegt der Fall nicht. Die Fachgremien, die das offizielle amerikanische Diagnosesystem DSM und den internationalen Krankheiten-Schl�ssel ICD der Weltgesundheitsorganisation verantworten, sind �berzeugt, dass Psychopathen wirklich existieren. Das DSM redet von "antisozialer Pers�nlichkeitsst�rung", das ICD von "dissozialer Pers�nlichkeitsst�rung", doch stets geht es um Menschen, die sich durch eine eigenartige Pers�nlichkeitsstruktur auszeichnen: F�r einen Psychopathen bedeuten die Gef�hle anderer Menschen wenig, er kann sie nicht gut nachempfinden. Daf�r kann er sie oft sehr gut berechnen und somit ausnutzen.

Viele Psychopathen verf�gen �ber gro�en Charme, doch die F�higkeit zu wirklichen Beziehungen fehlt ihnen. Daf�r lieben sie das Risiko. Manche suchen den Thrill bei gewagten Straftaten - mitunter leben sie ihren extremen Charakter auch bei l�blichen Heldentaten aus. Aus den Biografien von Chuck Yeager, der als erster Mensch die Schallmauer durchbrach, und von Richard Burton, der als Afghane verkleidet als einer der ersten Europ�er nach Mekka kam, schlie�t jedenfalls der amerikanische Psychologe David Lykken, dass beide eine psychopathische Anlage hatten. Auch Oskar Schindler h�lt er f�r einen Psychopathen - einen Spieler, der zuweilen buchst�blich mit der SS um das Leben von internierten Juden spielte und gewann.

Psychopathen begehen die H�lfte aller Schwerverbrechen

H�ufig werden Psychopathen allerdings tats�chlich kriminell - die einschl�gigen Statistiken m�ssen Politiker auf Verbrecherjagd faszinieren: Lediglich drei Prozent der M�nner und ein Prozent der Frauen in der Gesamtbev�lkerung z�hlen zu dieser schillernden Personengruppe. Doch nach amerikanischen Zahlen begehen Psychopathen �ber die H�lfte aller Schwerverbrechen. Bei einer deutschen Studie entpuppten sich 37 Prozent der untersuchten Straft�ter als dissoziale Charaktere.

Doch im Voraus ist es oft schwer zu sagen, wer sein Leben als Verbrecher und wer es als Oskar Schindler f�hren wird. In Gro�britannien sollen Spezialistenteams nach mehrw�chigen Untersuchungen ihre Prognose stellen. Pessimistische Experten halten das f�r unm�glich. Doch selbst Optimisten w�rden nie eine auch nur ann�hernd hundertprozentige Treffsicherheit garantieren. Es blieben also auch zahlreiche Menschen in Sicherheitsverwahrung, die in Freiheit niemand etwas antun w�rden. Das ist umso schwerer zu rechtfertigen, weil sich Psychopathen ihre Pers�nlichkeit nicht aussuchen.

Niemand wei� genau, wie ein Mensch zu einer psychopathischen Pers�nlichkeit kommt. Nat�rlich ist es wichtig, ob ein Kind beispielsweise in einer liebevollen oder einer gewaltgepr�gten Familie aufw�chst. Doch Zwillingsstudien deuten darauf hin, dass auch Erbfaktoren eine Rolle spielen. Andere Forschungen wiederum zeigen physiologische Auff�lligkeiten: M�glicherweise leben Psychopathen gern gef�hrlich, um ihren von Natur aus niedrigen Level k�rperlicher Aktivierung anzuheben. Auch Ver�nderungen im Frontalhirn scheinen eine Rolle zu spielen. Aber ist Psychopathie �berhaupt eine Krankheit? Schlie�lich sind die meisten Menschen gelegentlich r�cksichtslos oder riskieren zu viel. Vielleicht zeigen die eigenartigen Zeitgenossen nur ganz normale Verhaltensweisen im Extrem. Auch diese Frage ist nicht gekl�rt. Manche Theoretiker halten Psychopathen f�r eine Laune der Evolution: Menschen leben in Gruppen und vertrauen einander - ein mutierter Typ Mensch, der dieses Vertrauen ausnutzt, hat gute �berlebenschancen, solange er nicht zu h�ufig auftritt.

Angesichts all dieser offenen Fragen darf man gespannt sein, wie die britischen Beh�rden und ihre Experten die wirklich gef�hrlichen Psychopathen ermitteln wollen. Die Regierung gibt dazu derzeit keine Ausk�nfte. Ihre Pl�ne treibt sie unbeirrt voran - trotz eines �ffentlichen Aufschreis. Ein Editorial des British Medical Journal warf der Staatsmacht vor, sie wolle die �rzte mit den gleichzeitig versprochenen Forschungsgeldern "bestechen und zu Komplizen der Regierung beim unbegrenzten Einsperren" machen. Die Menschenrechtsorganisation Mind berichtete �ber eine Flut von Anrufen psychisch Kranker, die um ihre Freiheit f�rchten.

Wie viele Jahre Unfreiheit ist ein verhinderter Mord wert?

Die Regierung sch�tzt die Zahl der gef�hrlichen Individuen auf 2000, von denen ein Gro�teil schon im Gef�ngnis oder in Verwahrung steckt. Doch 300 bis 600 laufen angeblich frei herum, wobei die meisten der Polizei oder den Gesundheitsdiensten wohl bekannt seien.

Was man hinter Schloss und Riegel mit ihnen machen k�nnte, ist unklar. Von einer Behandlung ist wenig zu erwarten. Spezialeinrichtungen f�r solche Klienten gelten als kaum zu kontrollieren. Selbst der ehemalige Gesundheitsminister Frank Dobson bezeichnete die Hochsicherheitspsychiatrie von Ashworth vergangenes Jahr als "Chaosladen von oben bis unten", nachdem eine Kommission haarstr�ubende Zust�nde aufgedeckt hatte. Die Hausordnung stand nur auf dem Papier, Patienten gingen Gesch�ften nach, ein P�dophiler durfte ein siebenj�hriges M�dchen empfangen. Doch auch weniger skandaltr�chtige Versuche, Psychopathen zu �ndern, sind zumeist gescheitert.

Als "gef�hrliche Menschen mit schwerer Pers�nlichkeitsst�rung" Identifizierte w�rden also nicht gebessert, sondern nur weggesperrt, damit die Gesellschaft wenigstens zeitweise vor ihnen gesch�tzt ist. Die Regierung hat eine Kosten-Nutzen-Rechnung f�r ihre Pl�ne aufgemacht: 380 psychopathische Kriminelle werden derzeit j�hrlich ins Gef�ngnis oder in eine Klinik geschickt und bleiben dort im Schnitt f�nf Jahre. In Zukunft m�ssten sie aus Sicherheitsgr�nden dieselbe Zeit noch einmal zus�tzlich absitzen. Mithilfe von R�ckfallzahlen wird in dieser Rechnung kalkuliert, dass sich mit der weiteren Verwahrung die Zahl schwerer Verbrechen pro Jahr um fast 200 senken lie�e. Die Frage, die sich daraus ableiten l�sst: Wie viele Jahre Unfreiheit zus�tzlich zum gesetzlichen Strafma� ist eine verhinderte Vergewaltigung oder ein unterbundener Mord wert?

Und sie stellt sich noch sch�rfer. Denn in dieser Regierungskalkulation sind die ohne Tat und Urteil, aus reiner Vorsicht Eingesperrten nicht ber�cksichtigt. Wom�glich w�rde Freiheitsentzug auch f�r sie einige Verbrechen verhindern. Unter Umst�nden werden Ergebnisse der Hirnforschung zwar zeigen, dass sich die Zuordnung nicht treffen l�sst - vielleicht aber werden sie die Vorhersage genauer machen.

Das moralische Dilemma wird dann noch schwieriger. Auch hierzulande k�nnte die Versuchung wachsen, Menschen mit schlechter Prognose vorbeugend wegzusperren. Doch im Rechtsstaat hat jeder so lange das Recht auf ein Leben ohne Gitter, bis er es sich durch Taten verscherzt. Dies gilt selbst dann, wenn dadurch statistisch durchaus absehbar das Risiko f�r alle anderen steigt, Opfer eines Verbrechens zu werden. An diesem Prinzip wird sich nichts �ndern, zumal Kriminalit�t sich nie hundertprozentig wird vorhersagen lassen. Doch es k�nnte schwerer werden, diesen Grundsatz zu verteidigen.


� beim Autor/DIE ZEIT 2000 Nr. 26
All rights reserved.