Michael Stone wusste, dass er gefährlich war. Er wollte in eine britische Klinik aufgenommen werden, doch deren Ärzte erklärten ihn für unbehandelbar. Auch sonst konnte er nirgends eingewiesen werden, denn noch hatte er kein Verbrechen begangen. Wie der Independent trocken notierte, erlaubte man ihm stattdessen, "die Landschaft von Kent mit einem Hammer zu durchstreifen". Der verhinderte Patient tötete eine Mutter und ihre Tochter.
Solche Fälle soll es in Großbritannien in Zukunft nicht mehr geben. Alarmiert durch die beiden Morde, will die Regierung dafür sorgen, dass Menschen, von denen eine Bedrohung ausgeht, schon eingesperrt werden können, bevor sie etwas getan haben. Innenminister Jack Straw möchte dabei allerdings nicht warten, bis sie selbst an eine Kliniktür klopfen, sondern will Mitbürger schon dann einsperren lassen, wenn ein Expertenteam sie für gefährlich erklärt hat.
Wenn es nach Dirty Jack ginge, wie ihn eine Boulevardzeitung nach dem brutalen Filmpolizisten Dirty Harry nannte, könnten Menschen dann allein aufgrund ihrer Persönlichkeit hinter Schloss und Riegel gebracht werden. Ebenso sollen Kriminelle, die ihre Strafe für ein Verbrechen abgesessen haben, aber mutmaßlich weiter eine Gefahr darstellen, notfalls für immer festgehalten werden können. Ab Sommer will ein Pilotprojekt im Gefängnis Ihrer Majestät zu Whitemoor herausfinden, wie gefährliche Individuen möglichst fehlerfrei von harmlosen unterschieden werden können.
Aber geht das überhaupt? Und dürfte man Menschen aufgrund einer bloßen Prognose einsperren? Aufgrund einer wagen Auffälligkeit? In Deutschland sind solche Fragen aus historischen Gründen tabuisiert. Schnell könnte das Gespenst des "geborenen Verbrechers" und die nationalsozialistische Jagd nach ihm wiederkehren. Hierzulande ist die zwangsweise Unterbringung nur dann gestattet, wenn jemand in allernächster Zeit "mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit" gewalttätig zu werden droht, wie es das Oberlandesgericht Hamm ausdrückte. Eine abnorme Persönlichkeit allein reicht nicht. Um die aber geht es der linken Regierung des geschichtlich unbelasteten Großbritannien. Sie hat es abgesehen auf "gefährliche Menschen mit schwerer Persönlichkeitsstörung", so die amtliche Formulierung.
Gemeint sind damit Menschen, die man für gewöhnlich mit dem schillernden Begriff Psychopathen belegt. Viele Fachleute meiden diesen Begriff oder halten ihn gar nur "für ein Etikett, das bei Ärzten unbeliebte Patienten bekommen", wie Paul Moran vom Institut für Psychiatrie des King's College in London kritisiert. Doch so einfach liegt der Fall nicht. Die Fachgremien, die das offizielle amerikanische Diagnosesystem DSM und den internationalen Krankheiten-Schlüssel ICD der Weltgesundheitsorganisation verantworten, sind überzeugt, dass Psychopathen wirklich existieren. Das DSM redet von "antisozialer Persönlichkeitsstörung", das ICD von "dissozialer Persönlichkeitsstörung", doch stets geht es um Menschen, die sich durch eine eigenartige Persönlichkeitsstruktur auszeichnen: Für einen Psychopathen bedeuten die Gefühle anderer Menschen wenig, er kann sie nicht gut nachempfinden. Dafür kann er sie oft sehr gut berechnen und somit ausnutzen.
Viele Psychopathen verfügen über großen Charme, doch die Fähigkeit zu wirklichen Beziehungen fehlt ihnen. Dafür lieben sie das Risiko. Manche suchen den Thrill bei gewagten Straftaten - mitunter leben sie ihren extremen Charakter auch bei löblichen Heldentaten aus. Aus den Biografien von Chuck Yeager, der als erster Mensch die Schallmauer durchbrach, und von Richard Burton, der als Afghane verkleidet als einer der ersten Europäer nach Mekka kam, schließt jedenfalls der amerikanische Psychologe David Lykken, dass beide eine psychopathische Anlage hatten. Auch Oskar Schindler hält er für einen Psychopathen - einen Spieler, der zuweilen buchstäblich mit der SS um das Leben von internierten Juden spielte und gewann.
Psychopathen begehen die Hälfte aller Schwerverbrechen
Häufig werden Psychopathen allerdings tatsächlich kriminell - die einschlägigen Statistiken müssen Politiker auf Verbrecherjagd faszinieren: Lediglich drei Prozent der Männer und ein Prozent der Frauen in der Gesamtbevölkerung zählen zu dieser schillernden Personengruppe. Doch nach amerikanischen Zahlen begehen Psychopathen über die Hälfte aller Schwerverbrechen. Bei einer deutschen Studie entpuppten sich 37 Prozent der untersuchten Straftäter als dissoziale Charaktere.
Doch im Voraus ist es oft schwer zu sagen, wer sein Leben als Verbrecher und wer es als Oskar Schindler führen wird. In Großbritannien sollen Spezialistenteams nach mehrwöchigen Untersuchungen ihre Prognose stellen. Pessimistische Experten halten das für unmöglich. Doch selbst Optimisten würden nie eine auch nur annähernd hundertprozentige Treffsicherheit garantieren. Es blieben also auch zahlreiche Menschen in Sicherheitsverwahrung, die in Freiheit niemand etwas antun würden. Das ist umso schwerer zu rechtfertigen, weil sich Psychopathen ihre Persönlichkeit nicht aussuchen.
Niemand weiß genau, wie ein Mensch zu einer psychopathischen Persönlichkeit kommt. Natürlich ist es wichtig, ob ein Kind beispielsweise in einer liebevollen oder einer gewaltgeprägten Familie aufwächst. Doch Zwillingsstudien deuten darauf hin, dass auch Erbfaktoren eine Rolle spielen. Andere Forschungen wiederum zeigen physiologische Auffälligkeiten: Möglicherweise leben Psychopathen gern gefährlich, um ihren von Natur aus niedrigen Level körperlicher Aktivierung anzuheben. Auch Veränderungen im Frontalhirn scheinen eine Rolle zu spielen. Aber ist Psychopathie überhaupt eine Krankheit? Schließlich sind die meisten Menschen gelegentlich rücksichtslos oder riskieren zu viel. Vielleicht zeigen die eigenartigen Zeitgenossen nur ganz normale Verhaltensweisen im Extrem. Auch diese Frage ist nicht geklärt. Manche Theoretiker halten Psychopathen für eine Laune der Evolution: Menschen leben in Gruppen und vertrauen einander - ein mutierter Typ Mensch, der dieses Vertrauen ausnutzt, hat gute Überlebenschancen, solange er nicht zu häufig auftritt.
Angesichts all dieser offenen Fragen darf man gespannt sein, wie die britischen Behörden und ihre Experten die wirklich gefährlichen Psychopathen ermitteln wollen. Die Regierung gibt dazu derzeit keine Auskünfte. Ihre Pläne treibt sie unbeirrt voran - trotz eines öffentlichen Aufschreis. Ein Editorial des British Medical Journal warf der Staatsmacht vor, sie wolle die Ärzte mit den gleichzeitig versprochenen Forschungsgeldern "bestechen und zu Komplizen der Regierung beim unbegrenzten Einsperren" machen. Die Menschenrechtsorganisation Mind berichtete über eine Flut von Anrufen psychisch Kranker, die um ihre Freiheit fürchten.
Wie viele Jahre Unfreiheit ist ein verhinderter Mord wert?
Die Regierung schätzt die Zahl der gefährlichen Individuen auf 2000, von denen ein Großteil schon im Gefängnis oder in Verwahrung steckt. Doch 300 bis 600 laufen angeblich frei herum, wobei die meisten der Polizei oder den Gesundheitsdiensten wohl bekannt seien.
Was man hinter Schloss und Riegel mit ihnen machen könnte, ist unklar. Von einer Behandlung ist wenig zu erwarten. Spezialeinrichtungen für solche Klienten gelten als kaum zu kontrollieren. Selbst der ehemalige Gesundheitsminister Frank Dobson bezeichnete die Hochsicherheitspsychiatrie von Ashworth vergangenes Jahr als "Chaosladen von oben bis unten", nachdem eine Kommission haarsträubende Zustände aufgedeckt hatte. Die Hausordnung stand nur auf dem Papier, Patienten gingen Geschäften nach, ein Pädophiler durfte ein siebenjähriges Mädchen empfangen. Doch auch weniger skandalträchtige Versuche, Psychopathen zu ändern, sind zumeist gescheitert.
Als "gefährliche Menschen mit schwerer Persönlichkeitsstörung" Identifizierte würden also nicht gebessert, sondern nur weggesperrt, damit die Gesellschaft wenigstens zeitweise vor ihnen geschützt ist. Die Regierung hat eine Kosten-Nutzen-Rechnung für ihre Pläne aufgemacht: 380 psychopathische Kriminelle werden derzeit jährlich ins Gefängnis oder in eine Klinik geschickt und bleiben dort im Schnitt fünf Jahre. In Zukunft müssten sie aus Sicherheitsgründen dieselbe Zeit noch einmal zusätzlich absitzen. Mithilfe von Rückfallzahlen wird in dieser Rechnung kalkuliert, dass sich mit der weiteren Verwahrung die Zahl schwerer Verbrechen pro Jahr um fast 200 senken ließe. Die Frage, die sich daraus ableiten lässt: Wie viele Jahre Unfreiheit zusätzlich zum gesetzlichen Strafmaß ist eine verhinderte Vergewaltigung oder ein unterbundener Mord wert?
Und sie stellt sich noch schärfer. Denn in dieser Regierungskalkulation sind die ohne Tat und Urteil, aus reiner Vorsicht Eingesperrten nicht berücksichtigt. Womöglich würde Freiheitsentzug auch für sie einige Verbrechen verhindern. Unter Umständen werden Ergebnisse der Hirnforschung zwar zeigen, dass sich die Zuordnung nicht treffen lässt - vielleicht aber werden sie die Vorhersage genauer machen.
Das moralische Dilemma wird dann noch schwieriger. Auch hierzulande könnte die Versuchung wachsen, Menschen mit schlechter Prognose vorbeugend wegzusperren. Doch im Rechtsstaat hat jeder so lange das Recht auf ein Leben ohne Gitter, bis er es sich durch Taten verscherzt. Dies gilt selbst dann, wenn dadurch statistisch durchaus absehbar das Risiko für alle anderen steigt, Opfer eines Verbrechens zu werden. An diesem Prinzip wird sich nichts ändern, zumal Kriminalität sich nie hundertprozentig wird vorhersagen lassen. Doch es könnte schwerer werden, diesen Grundsatz zu verteidigen.