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Richter-Appelt H.

Sexuelle Traumatisierungen und körperliche Mißhandlungen: Eine Befragung von Studentinnen und Studenten

in Rutschky, Wolff (ed.), Handbuch sexueller Mißbrauch , Klein, Hamburg, S.166-142 (1994)

Auszüge (Anordnung und Darstellung z.T. verändert)

Untersuchungsmethode

Es liegen 616 auwertbare Fragebögen von Frauen und 452 von Männern vor. Nach einem detaillierten Kriterienkatalog wurde sexueller Mißbrauch operationalisiert. Dabei fanden folgende Aspekte Berücksichtigung: Es war mindestens eine sexuelle Handlung bzw. Situation angegeben, bei der es zu einer körperlichen Berührung entweder mit einem Erwachsenen oder mit einem Kind kam, die unter Anwendung von Druck oder Gewalt gegen den Willen der Befragten durchgeführt worden war. Außerdem muß von der befragten Frau angegeben worden sein, daß sie sich als sexuell mißbraucht bezeichnen würde. []

Auch für körperliche Mißhandlung wurde ein Kriterienkatalog erstellt. Leichtere Mißbrauchsformen (z.B. Ohrfeigen) mußten häufig angegeben worden sein; schwere Mißhandlungsformen (z.B. Verbrennungen) wurden berücksichtigt, wenn sie mindestens einmal angegeben worden waren. []

Unter den 616 Frauen befanden sich 25%, die entweder durch Rating (11%) oder nur durch Selbsteinschätzung (14%) den Gruppen der sexuell mißbrauchten zugeteilt wurden. 26% der Gesamtstichprobe kamen in die Gruppe der körperlich mißhandelten. []

Die ersten Ergebnisse in dieser Arbeit beziehen sich somit auf 41 Frauen die sexuell mißbraucht und körperlich mißhandelt worden sind (SMKM), 27 nur sexuell mißbrauchte Frauen (SM), 99 nur körperlich mißhandelte (KM) und eine Gruppe von 208 unauffälligen Frauen (UA).

Ergebnisse

Gruppenunterschiede
Vollerwerbstätigkeit des Vaters -
Beschäftigung der Mutter -
Bis 12. Lbj. mit Eltern gelebt SMKM < SM, KM < UA
Eltern trennten sich SMKM > Rest
Wohnfläche KM < Rest
Finanzielle Situation KM < Rest
Atmosphäre zu Hause KM, SM < UA
Partnerschaft der Eltern KM, SM < UA
Häufigkeit der Konflikte der Eltern KM, SM < UA
Kontakte der Familie KM < Rest

Kein Unterschied besteht [] zwischen den Gruppen, was die Vollerwerbstätigkeit des Vaters und die Beschäftigung der Mutter angeht, obwohl dies in der wissenschaftlichen Literatur immer wieder vermutet wird. Dies könnte allerdings daran liegen, daß hier der sexuelle Mißbrauch nicht auf den innerfamiliären Mißbrauch beschränkt wurde.
Vernachlässigung SMKM SM KM UA
Körperlich vernachlässigt 20 4 8 4
Seelisch vernachlässigt 71 26 3412
Seelisch mißhandelt 44 15 5 0

Die Diagramme machen deutlich, daß sexueller Mißbrauch und körperliche Mißhandlung, vor allem wenn sie zusammen auftreten, häufig bei gleichzeitiger körperlicher und seelischer Vernachlässigung stattfinden. [] Noch deutlicher sind die Unterschiede zwischen den Gruppen in der Frage nach der seelischen Mißhandlung.
Probleme vor 12. GeburtstagSMKM SM KM UA
Schlafstörungen 15 4 11 9
Angstträume 34 23 28 11
Einnässen 5 19 7 5
Stottern 5 4
Daumenlutschen 24 11 16 21
Nägelkauen 29 19 18 27
Eßprobleme 19 11 9 5
Rauchen 15 4 0 0
aggr. Verhalten geg. anderen 24 8 9 4
aggr. Verhalten geg. Gegenst. 7 0 6 0
Diebstahl 22 8 8 6

Faßt man die genannten Probleme zusammen, die Frauen in der Kindheit gehabt haben, so fällt auf, daß die körperlich mißhandelten und sexuell mißbrauchten Frauen signifikant häufiger folgende Probleme nennen: Schlafstörungen und Angstträume (je p<.05), besonders häufig aggressives Verhalten gegenüber anderen (p<0.001) und Diebstahl (p<.005). Das einzige Problem, das in der Gruppe der nur sexuell mißbrauchten Frauen signifikant häufiger als in den anderen Gruppen angegeben wurde, war Eunuritis (Einnässen).
Probleme nach 12. GeburtstagSMKM SM KM UA
Rauchen 24 15 27 18
Alkohol 24 11 14 8
Medikamente 13 0 2 3
Drogen 22 4 7 5
Bulimie 23 4 10 3
Adipositas 25 9 8 6
Anorexia nervosa 17 4 14 8
Schlafstörungen 38 16 19 19
Körperliche Beschwerden 49 40 52 35
Sexuelle Probleme 63 50 39 17
Selbstverletzungen 33 8 9 4
Selbstmordgedanken 73 30 45 25
Selbstmordversuche 22 12 6 2

Auch für diesen Zeitraum geben körperlich mißhandelte und sexuell mißbrauchte Frauen die meisten Probleme an. [] Besondere Beachtung muß den Fragen nach Selbstverletzung, Selbstmordgedanken und Selbstmordversuchen geschenkt werden. In all diesen Variablen besteht ein hochsignifikanter Unterschied auf dem 1%-Niveau zwischen den körperlich mißhandelten und sexuell mißbrauchten Frauen und den anderen Gruppen.

Diskussion

[] Die Zahlen deuten darauf hin, daß sexueller Mißbrauch und körperliche Mißhandlung häufig vor dem Hintergrund von körperlicher und seelischer Vernachlässigung stattfinden. Eine weitere Analyse der vorliegenden Daten wird zeigen, welche Rolle dieses für die Ausbildung der dargestellten Probleme im Kindes- und Jugendalter spielen.

Der immer wieder aufgestellten Behauptung, sexueller Mißbrauch komme in jeder sozialen Schicht vor, muß weiter nachgegangen werden. Die vorläufigen Auswertungen weisen darauf hin, daß die Kombination von sexuellem Mißbrauch und körperlicher Mißhandlung, die besonders schwerwiegende Folgen aufweist, keineswegs unabhängig von der sozialen Schicht zu sein scheint.

Die Diskussion der Daten muss zum gegenwärtigen Zeitpunkt kurz ausfallen. Es liegen zwar Häufigkeitsangaben zu den einzelnen Fragen vor, aber erst die Analyse der komplexen Zusammenhänge wird die Relevanz bestimmter Variablen für das Verständnis von Missbrauch und Misshandlung deutlicher machen. Dennoch haben bereits diese ersten Auswertungen die Wichtigkeit der Berücksichtigung körperlicher Misshandlung, wie auch anderer Faktoren, für ein differenziertes Verständnis von sexuellen Traumatisierungen deutlich gemacht.


[der folgende Abschnitt steht im Original vor der Beschreibung der Untersuchung]

Die Isolierung des sexuellen Mißbrauchs

In einem Großteil der Studien, die in den letzten Jahren zum sexuellen Mißbrauch erschienen sind, findet man folgende Betrachtungsweisen:

Es scheint völlig absurd, Folgen von sexuellem Mißbrauch untersuchen zu wollen, ohne diese Faktoren zu berücksichtigen. Wie will man denn wissen, daß nicht körperliche Strafen, seelische und körperliche Vernachlässigung, Spannungen zwischen den Eltern, die dem sexuellen Mißbrauch meist vorausgegangen sind, die schwerwiegenderen Traumatisierungen darstellen, so daß der sexuelle Mißbrauch vielleicht nur noch harmlos in dieser Kette von Traumatisierungen erscheint, ja unter Umständen die einzige "liebevolle", wenn auch sicherlich falsche Zuwendung darstellt?

Nicht zuletzt muß noch betont werden, daß der Begriff des sexuellen Mißbrauchs extrem irreführend ist, da nur ein Teil der sexuellen Traumatisierungen damit erfaßt wird. Wegen des weit verbreiteten Sprachgebrauchs wird er jedoch auch im folgenden beibehalten.