[p.192] Im Vorfeld einer strafrechtlichen Verfolgung bei sexuellem Mißbrauch an Mädchen und Jungen kann das Vorgehen nicht losgelöst davon betrachtet werden, welche Folgen eine Anzeige für die Betroffenen hat. [...]
Auf der einen Seite erwartet die Öffentlichkeit von der Justiz, daß die Tatbestände möglichst lückenlos aufgeklärt und der Täter gegebenenfalls verurteilt wird - auf der anderen Seite steht die auch bei schwerwiegenden Mißbrauchserfahrungen fast [p. 193] immer vorhandene Loyalität des Opfers, ja Zuneigung gegenüber der nahen Bezugsperson, durch die es die Beeinträchtigung erfahren hat. Zudem entwickeln viele Kinder sowohl bei Inzest oder inzestähnlichen Konstellationen als auch bei Mißbrauch durch Fremdtäter Schuldgefühle, wenn sie zur Tataufklärung beitragen. [...] Polizei, Staatsanwaltschaft, Verteidigung des Angeklagten und Richter müssen den Blick dafür öffnen, daß am Ende eines gesetzmäßigen Vorgehens innerhalb des Strafverfahrens eine Sekundärtraumatisierung des Opfers stehen kann;
[...] Insbesondere wenn die Zeugenaussagen von Dritten [...] nur unzulänglich den Sachverhalt erhellen, kommt der Aussage des betroffenen kindlichen oder jugendlichen Zeugen eine entscheidende Bedeutung zu. Die für das Opfer verantwortlichen [p.194] Bezugspersonen, die darüber entscheiden, ob das Kind freiwillig vor Gericht erscheint oder nicht, sollten dies in ihrer Entscheidung berücksichtigen. [...]
Manchmal liegt eine Verfahrenseinstellung gemäß Par. 153, 153 a StPO eher im Interesse des Kindes als eine unter allen Umständen erzwungene Verurteilung des Täters - z.B. wenn es sich um eine Tat von geringem Gewicht handelt, kein hoher Schuldvorwurf zu erheben ist und ein Verfahren für das Opfer eine besonders große Belastung bedeuten würde.
[p.199] Als Richter kann ich mich nicht umfassend mit der Problematik des sexuellen Mißbrauchs beschäftigen, ohne auf die Frage einzugehen, ob die Bestrafung des Täters als eine sinnvolle und verantwortbare Konfliktlösung angesehen werden kann, wenn man die weitreichenden Auswirkungen des justizförmlichen Verfahrens für Opfer und Täter berücksichtigt. Meines Erachtens ist Strafe eine adäquate Antwort auf einen essentiellen Verstoß gegen die allgemein anerkannten Wertnormen, so auch in Fällen des sexuellen Angriffs. Ob in den übrigen Fällen differenziert werden muß und neben der Strafe oder an deren Stelle eine andere Lösungmöglichkeit gestellt werden kann - z.B. Therapie oder Maßnahmen nach den Grundsätzen des Täter-Opfer-Ausgleichs -, muß noch erforscht und weiterdiskutiert werden. Die Zukunft wird uns Wege weisen müssen - doch schon jetzt können die MitarbeiterInnen psychosozialer Arbeitsfelder und der Strafverfolgungsbehörden einen wesentlichen Beitrag leisten, das Leid der betroffenen jungen Menschen zu lindern.