[S.11] Die alte Sexualmoral war essentialistisch oder fundamentalistisch und qualifizierte bestimmte sexuelle Handlungen - zum Beispiel voreheliche oder aussereheliche Sexualität, Masturbation, Homosexualität, Oralverkehr, Verhütung - prinzipiell als böse, weitgehend unabhängig von ihrem Kontext. Sie war eine Moral der Akte. Zentrale Kategorie der Verhandlungsmoral dagegen ist die Forderung nach vereinbartem, ratifiziertem Sexualverhalten, der ausdrückliche verbale Konsens - man hat sie deshalb auch Konsensmoral genannt. Da sie nicht sexuelle Handlungen oder Praktiken bewertet, sondern die Art und Weise ihres Zustandekommens, also Interaktionen, hat die Verhandlungsmoral durchaus liberale Züge.
[S.13] Die Verhandlungsmoral hat also die sexuellen Perversionen - oder das, was man vordem so nannte - längst erreicht. Nur noch sexuelle Besonderheiten, die die Verhandlungsmoral inhärent verfehlen, zum Beispiel die Pädophilie wegen des Machtungleichgewichts der Partner, bleiben als Perversion erhalten und werden heute unnachsichtiger ausgespäht un verfolgt als früher. Und es hilft den Pädophilen wenig, wenn Rüdiger Lautmann in seiner empirischen Untersuchung vielen von ihnen eine "sorgfältig entwickelte Konsensstrategie" bescheinigt und bei diesen Pädophilen vorsichtig "von sexuellen Verträgen (!) zwischen den Generationen" spricht, als von einer Verhandlungsmoral.
[S.75]
Die meisten ungewöhnlichen Formen der Sexualität sind, verhandlungsmoralisch abgesegnet, auf dem Wege, sexuelle Optionen zu werden, die vielleicht noch befremden, aber kaum noch provozieren. Der Sadomasochismus ist ein Beispiel dafür. Eine gewichtige Ausnahme von dieser Tendenz ist die Pädophilie: Sexualität von Erwachsenen mit oder an (hier fängt das Problem schon an) Kindern, die die Forderung nach sexueller Selbstbestimmung offenbar inhärent und unaufhebbar verfehlt. Mit dieser, einer der letzten Formen schockierender Sexualität, beginne ich.
Ein knapp vierzigjähriger Mann, ledig, Archivar in einer westdeutschen Großstadt - konsultiert unsere Abteilung, weil er wegen sexueller Handlungen mit Kinderns straffällig geworden ist. Sein sexuelles Verlangen und seine Wünsche nach Zuneigung, so berichtet er, sind ausschliesslich auf Jungen in der Vor- und Frühpubertät gerichtet, etwa Elf- bis Viezehnjährige. [] Die Handlungen bewegen sich auf dem Niveau präpubertaler gleichgeschlechtlicher Spiele unter Jungen, so als wolle er ein Stück versäumter Entwicklung nachholen. Er respektiert die Grenzen, die die Jungen setzen, lasse von ihnen ab, wenn sie Ablehnung oder Unwillen bekundeten; denn das alles mache ihm nur Spass, wenn die Jungen es auch wollten. [] Daneben gibt es sehr viel intensivere Kontakte, die aber selten bleiben [] Mit der Justiz ist er erstaunlich selten, lediglich zweimal, in Konflikt gekommen. [] Beide Male reagierte er mit Selbstmordversuchen, die er knapp überlebte. []
{S.78] Ich möchte die Dramaturgie sexueller Perversionen anhand der Fallgeschichte aufzeigen, nehme das Ergebnis aber schon einmal vorweg: In perversen Handlungen und Phantasien wird ein zentraler seelischer Konflikt, ein zentrales Trauma des Betroffenen verschlüsselt dargestellt - verschlüsselt wie im Traum - und scheinbar kurzfristig gelöst oder gemildert.
Um das nachvollziehen zu können, müssen wir einiges aus der Biographie des Archivars erfahren []
[S.82] So wie ich es in diesem Beispiel versucht habe, lassen sich alle Perversionen entschlüsseln, oft in einem langwierigen, mühsamen therapeutischen Prozess des Verstehens. Und wenn man sie so versteht, dann sind perverse Handlungen eine schöpferische, kompensatorische, das psychische Gleichgewicht wiederherstellende Leistung des Ichs, ein Selbstrettungsversuch des Individuums; [] Der Begriff "Perversion" bezeichnet sexuelle Vorlieben, die diese Funktion haben; die wissenschaftliche Definition der Perversion zielt also auf die psychische Dynamik, die hinter dem Verhalten steht. []
In meinem Symptomverständnis, das ich anhand der Fallgeschichte beschrieben habe, steht die geheime, verdeckte symbolische Bedeutung der sexuellen Besonderheit im Vordergrund. Das ist nicht unproblematisch. [] Auch wenn das Ergebnis noch so einleuchtend klingt, darf es nicht als "Wirklichkeit" genommen werden. Es entsteht lediglich eine expertendominierte Geschichte über den Patienten, die für ihn durchaus hilfreich sein mag. Andere Experten würden ihm eine andere Geschichte "erfinden", vielleicht eine ähnliche, vielleicht eine ganz andere. Der Drang der Experten, solche Geschichten zu schreiben, besteht übrigens nur bei den sexuellen Besonderheiten, die als auffällig, gefährlich oder krank gelten. Immer seltener kommen wir beispielsweise auf die Idee, konsensuelle sadomasochistische Sexualität verstehen zu wollen, d.h., ein biographisches Narrativ einer sadomasochistischen Entwicklung zu formulieren. Noch seltener kommt es uns in den Sinn, Homosexualität biographisch herzuleiten (das war noch vor 20 Jahren vollkommen anders) oder die Symptomgeschichten des Ehebrechers, der Nymphomanin oder des Masturbanten zu konstruieren (auch das hat man früher mit Hingabe getan). Und die kommode Heterosexualität ist noch nie biographisiert oder biographisch dramatisiert worden, sie war und ist einfach da, galt und gilt nicht als erklärungsbedürftig.
[S.116]
[] Es gibt unvorstellbare sexuelle Brutalität gegenüber Kindern und vielfältige sexuelle Ausbeutung von Kindern. Selbst vorsichtige Fachleute sprechen on 80 000 Kindern unter vierzehn Jahren, die in einem Jahr (1990) Opfer sexueller Delikte werden - vom Exhibitionieren über körperlich-sexuelle Berührungen bis hin zu Vergewaltigungen; ein Drittel dieser Delikte geschehen innerhalb der Familie.
Ein Fünfjähriger erzählt in seinem Kindergarten in Hamburg, dass der Vater oft seinen Penis anfasse und streichele. Als die Mutter das Kind nachmittags vom Kindergarten abholen will, wird ihr beschieden, dass ihr Sohn in ein Heim überstellt sei und nicht nach Hause dürfe wegen des Verdachts auf Kindesmissbrauch. Die Frage der Mutter, warum man nicht zuerst mit ihr oder dem Vater gesprochen habe, nützt ebensowenig wie der Hinweis, dass sie vom Hausarzt gebeten worden sei, wegen einer leichten Phimose des Jungen die Vorhaut täglich hin und her zu bewegen. Da ihr diese Tätigkeit zu nahe trete, habe sie ihren Mann gebeten, sie auszuführen. Es dauert Tage, bis der Akt bürokratischer, amtlicher Kindesentführung rückgängig gemacht wird, ein Akt, der der Philosophie folgte, jede sexuelle Handlung an Kindern sei so gravierend, dass selbst bei geringstem Verdacht alle anderen Risiken in Kauf genommen werden müssen, zum Beispiel die Trennung von der Familie, die Verwirrung des Kindes über den Eingriff der Behörden in sein Familienleben.
Geschehnisse beiderlei Typs, dramatische und weniger dramatische, ließen sich beinahe endlos erzählen. Sie zeigen beides: Sexuelle Ausbeutung, Zwang und Gewalt gegenüber Kindern sind ein Faktum; und zugleich unterliegt dieses Thema einer katastrophistischen Bearbeitung in der öffentlichen und zum Teil auch in der wissenschaftlichen Diskussion. [] Die soziale Wirklichkeit zwischen Erwachsenen und Kindern wird für letztere als prinzipiell gefährlich konzipiert, und zwar vor allem sexuell gefährlich; Kinder sind sexuell den schwersten Traumen ausgesetzt, andere Gefahren verblassen dahinter.
Dabei wurde die sexuelle Gefährdung von Kindern in [S. 118] den letzten Jahren zunehmend generalisiert, sie wurde allgegenwärtig. [] wurden zuerst nur Männer als Täter ausgemacht, so sind es nun auch Frauen, Jugendliche, und Kinder. Der oder die "child perpetrator of sexual abuse" (man kann das gar nicht übersetzen) betritt die Bühne der klinischen Psychologie. Diese Ausweitung des Täterkreises erforderte allerdings eine ausufernde Definition des "Missbrauchs". Die Arbeit des Bremer Soziologen Gerhard Amendt über die Beziehung von Müttern und Söhnen ist ein beredtes Beispiel dafür: Lustvolles Stillen, sinnliche Freude am schönen Körper des Dreijährigen, intensives Knuddeln und Herzen das auch der Mutter guttut und sie befriedigt, gemeinsames Baden und so weiter und so fort werden als Missbrauch denunziert; wohlgemerkt: nicht als zuviel Nähe, als Überfürsorge, als Distanzlosigkeit, Grenzüberschreitung, die sie unter Umständen sein können, nein, als sexueller Missbrauch, als sexuelle Tat. Der Terminus "sexueller Missbrauch" ist längst ein ideologischer und Kampfbegriff geworden.
[] Die Missbrauchsdebatte schafft eine neue Bewertung und Realität: Der Umgang von Erwachsenen mit Kindern wird prinzipiell als gefährlich, sexuell gefährlich, konzipiert, und zwar besonders innerhalb der Familie. Kinder scheinen ihre Lektion zu lernen: Einer Umfrage nach fürchten sich 74% vor Sexualverbrechern, aber nur noch 3% vor dem Teufel.
Die Kritik an Freud in den achtziger Jahren von Alice Miller oder Jeffrey Masson, der Freud einen "Anschlag auf die Wahrheit" unterstellte, und die heutige Missbrauchsdebatte stellen denn auch die alten Verhältnisse wieder her: Nun haben wieder die Eltern, vor allem die Väter, Inzestgelüste, und die Kinder sind beinahe wieder ihrer Sexualität beraubt, präfreudianisch. Wenn Kinder nur noch als Opfer gedacht werden, löst sich ihre eigene Sexualität auf, bis hin zu der Tendenz, sexuelle Äußerungen eines Kindes unter dem Stichwort "sexualisiertes Verhalten" nur noch als Indiz eines Missbrauchs zu betrachten (was sie in Einzelfällen auch einmal sein können), nicht aber als eigene, ursprüngliche Äußerungen. Kindersexualität spiegelt nur noch missbraucht Unschuld wieder.
[] Analoge Trends zeigen sich bei Vorschulkindern; anekdotische Beobachtungen - systematische gibt es bezeichnenderweise nicht - deuten auf einen spektakulären Zusammenbruch alter Tabugrenzen hin: Drei- oder Vierjährige machen Doktorspiele in der Ecke des Wohnzimmers, unter den Augen der Eltern; die Tochter erzählt ihrem Vater freudestrahlend, dass sie und Max (ein Junge aus dem Kindergarten) "Möse" und "Schwanz" angeguckt hätten; der Vierjährige fragt seine Mutter beim Schmusen freundlich, ob sie auch mal seinen "Pimmel" küssen würde; die Sechsjährige bietet beim Herumtollen ihrem etwas jüngeren Bruder kichernd an, doch einmal zu versuchen, den "Pimmel" in die "Möse" zu stecken - die Gegenwart der Eltern stört sie nicht, vielleicht erhöht sie sogar den Reiz; regelrechte Sexualanamnesen werden erhoben, die Eltern gefragt, wie oft sie schon "gesext" oder gar "gelutscht" haben, ob sie es immer noch tun usw. - und die Kinder schütteln sich vor Lustekel und halten sich den Bauch vor Lachen. In den Kindergärten geht es kaum anders zu als in den Familien: Pralle "Sexualisierung", nichts von Unschuld. Liberalität und Freizügigkeit gegenüber den Wünschen der Kinder hat auch deren Triebhaftigkeit unvermittelter in die Familie gebracht, und die sitzt damit nun da. Den Eltern ist die Unbefangenheit der Kinder oft befremdlich, das weniger heimliche Treiben unheimlich.
Der latente Inzestkonflikt wurde noch einmal verschärft: Bei höchster und zunehmender körperlicher Intimität und sexueller Offenheit zwischen Eltern und Kindern, Brüdern und Schwestern sind strenge sexuelle Verbote zu beachten. Durch diese Entwicklung ist die Inzestbedrohung in der Familie stärker präsent und erfordert eine besondere Abwehrleistung. Eine Abwehrmöglichkeit liegt in der Projektion der Gefahr nach außen - sexuelle Übergriffe sind überall, draußen -, um sie dann dort zu bekämpfen mit einer besonderen Sensibilität gegenüber dem Missbrauch.
[] Der Vater, der abends noch mal nach seiner Vierjährigen guckt, das hochgestrampelte Nachthemd herunterzieht, sie zudeckt, mit einer zärtlichen Geste wieder hinausgeht, wird sich fragen, ob seine Tochter diese Szene, die sie im Halbschlaf mitkriegt, einmal anders erinnern oder interpretieren wird. [] "Halte dein Kind auf Distanz, hüte dich vor spontanen und körperlichen Äußerungen elterlicher Liebe" - auch das ist eine Botschaft der Missbrauchsdebatte. So trägt diese Debatte, deren Vehemenz sich vermutlich dem Zusammenbruch familiärer Grenzen verdankt, die Schranken in die Familie zurück, errichtet sie aber kaum jemals an der richtigen Stelle.