Zu diesem Aufsatz habe ich mich entschlossen, weil ich durch die Art, wie der feministische Kampf gegen sexuellen Mißbrauch geführt wird, zutiefst beunruhigt bin. []
Weil eine ernsthafte Diskussion nur anhand von konkretem Material möglich ist und um meine Argumente überprüfbar zu machen, habe ich mich dazu entschlossen, anhand des Berichts von "Wildwasser - Arbeitsgemeinschaft gegen sexuellen Mißbrauch von Mädchen e.V., Berlin" über das Modellprojekt "Beratungsstelle und Zufluchtswohnung für sexuell mißbrauchte Mädchen" meine Kritik an der feministischen Beratungsarbeit gegen sexuellen Mißbrauch zu formulieren. []
[] "Es verlangt ständige Aufmerksamkeit, um nicht aus der (Töchter-)Position heraus und vielleicht der Erfahrung eigener Verletzungen in der Kindheit, für die die Mutter verantwortlich gemacht wurde, den patriarchalen, beschuldigenden Blick z.B. auf die Mutter zu übernehmen, sondern den Blick auf ihre gesellschaftliche Lebenssituation beizubehalten." Treffender könnte man es nicht formulieren, was den Kern dieser Art feministischen Theoriebildung ausmacht: Wenn uns am eigenen Geschlecht etwas schmerzt, was wir sehen, schauen wir einfach weg von der Frau auf die Situation um sie herum.
Der erste Teil der Untersuchung trägt die Überschrift "Lebenssituation sexuell mißbrauchter Mädchen". Die Formel der Mitarbeiterinnen dazu lautet: "Sexueller Totalangriff auf das Menschensein". Unter dem Stichwort "Angriff auf die Persönlichkeit" werden Zitate von Mädchen versammelt, die davon handeln, daß sie sexuelle Übergriffe seitens erwachsener Männer als "nicht normal", "unangenehm", "irgendwie komisch" empfanden, daß sie keine Worte dafür hatten und nicht verstanden, was passierte, und daß sie nicht dachten, daß andere das auch erlebten.
Zurück zu den Mädchen, aus deren Mitteilungen hervorgeht, daß sie die betreffenden Väter oder Stiefväter leibten. Ein Fall wird erwähnt, bei dem ein Mädchen weg wollte von der Mutter zum Vater []. Über das Leben der Mädchne erfährt man so gut wie nichts. Wenn die Autoren siebzig Seiten später allerdings behaupten, "keine Anhaltspunkte für die von einigen Autoren vertretene These gefunden zu haben, daß Mädchen immer auch eine positive Beziehung zum Täter hätten", fragt man sich, ob die Mitarbeiterinnen und Forscherinnen sich für das Leben der Mädchen vielleicht deshalb gar nicht interessieren, weil das genaue Hinschauen ihr vereinfachtes Weltbild stören würde.
[] Auf jeden Fall aber heißt, den "Mißbrauch zu verarbeiten", bei "Wildwasser" nichts anderes, als sich die Sicht von "Wildwasser" anzueignen. Jede, die eine andere Sicht zum Ausdruck bringt, hat dann eben alles nur noch nicht richtig verarbeitet. []
Meine Erfahrung mit Erzieherinnen ist, daß sie, nach entsprechenden Fortbildungen oder angeleitet von spezialisierten Psychologinnen vollkommen unreflektiert beginnen, in ihren Kindergärten Signale sexuell zu deuten und nach Kindern zu "fahnden", die zu den Signalen passen. Wie die Praxis zeigt, werden solche Kinder immer gefunden, denn die angeblichen Verhaltenssignale sind so diffus gefaßt, daß sie auf nahezu alle Heranwachsenden irgendwann einmal zutreffen. Es werden nach meiner Erfahrung allerdings typischerweise solche Kinder herausgegriffen, zu denen und zu deren Eltern einen Kontakt herzustellen bislang nicht möglich war. []
Die Beratungsarbeit bei Wildwasser folgt autoritären Mustern. Sie ist nicht auf Verstehen, sondern auf Handeln, meist unter Zeitdruck, ausgerichtet. Notfalls soll ein Mädchen der Mutter auch "gegen ihren Willen" entzogen werden. Vertraulichkeit ist in der Beratung nicht garantiert. Den Klientinnen wird erklärt, daß ihre Informationen im Team weitergereicht und eventuell weitere Einrichtungen und Personen "eingeschaltet" werden. Mütter werden über die Gespräche mit den Mädchen informiert, häufig auch umgekehrt.
[] "Alles erzählen" heißt bei Wildwasser immer "Mißbrauchserfahrungen erzählen". Und wenn die Mädchen das nicht von alleine tun, dann legt die Beraterin es ihr in den Mund, wie folgender Bericht einer Beraterin zeigt: "[] Ich habe zu ihr gesagt: 'Du, ich dneke, daß dein Vater dich auch sexuell mißbraucht hat, daß er dich angefaßt hat, Sachen mit dir gemacht hat, die du nicht wolltest. Und wie ist das, ist mein Gefühl richtig?' Und sie hat dann 'ja' gesagt. []"
Ein anderes Beispiel "[] Und dann muß ich fragen: 'Kennst du das Gefühl irgendwoher?' oder für sie aussprechen: 'Ich denke, das erinnert dich vielleicht an den Mißbrauch'. Diese Rückschlüsse müssen wir oft für die Mädchen ziehen." Ein drittes Beispiel: "Sie sind in einer Beratungsstelle, wo es um sexuellen Mißbrauch geht. Vieles, womit Sie heute zu tun haben, hat mit diesen Erfahrungen zu tun.".
Frappierend an den Darstellungen solcherart Beratungen ist, wie unbekümmert die Beraterinnen sich in die Position von Magierinnen setzen: Sie sind es, die die Rückschlüsse ziehen, und sie sind es, die wissen, womit alles zusammenhängt. So etwas ist nicht Beratung, sondern Zauberei, oder, unfreundlicher ausgedrückt: nicht weit entfernt von Gehirnwäsche, die soweit geht, daß Mädchen und Frauen nicht nur das in den Mund gelegt wird, was die Beraterin hören will, daß ihre Rückschlüsse den Mädchen aufgedrängt werden, nein, es geht sogar so weit, daß die "Erinnerungen" der Mädchen "korrigiert" werden. Durch Erinnerungskorrekturen sollen die Mädchen die Schuldgefühle genommen und ihnen klargemacht werden, "wie der Mißbraucher alles geplant und inszeniert" habe.
Dazu ein Mädchen: "Na ja, vor allem hat sie (die Beraterin) mir zu verstehen gegeben mit der Zeit, woran ich jetzt auch glaube, daß ich eigentlich überhaupt keine Schuld habe, daß ich nicht schlecht bin." Das klingt zwar vordergründig frauen- und mädchenfreundlich, ist es aber ganz und gar nicht. Freundlich wäre, wenn die Beraterinnen sich tatsächlich mit den Mädchen und ihren Schuldgefühlen beschäftigen würden. Dann würde sie nämlich darauf kommen, daß diese mit der Geplantheit oder Nicht-Geplantheit der Tat durch den Mann erst mal gar nichts zu tun haben, sondern mit psychischen Mechanismen im Mädchen selbst: Es schämt sich, weil es dem sexuellen Mißbrauch sein kindliches Selbst opfert, und es hat Schuldgefühle, weil es in seinen Augen "selbstsüchtig" und wider besseres Wissen in einer Beziehung zu einem Erwachsenen verharrt, der es sexuell mißbraucht hat, aus Angst, die Beziehung zu verlieren. Den Erinnerungen an dieses psychische Dilemma aber wird von den Beraterinnen nicht zur Sprache verholfen, sondern diese werden "korrigiert", wie sie sagen. []
Die Beraterinnen verhalten sich in der Interaktion mit den Mädchen exakt nach dem Muster mißbrauchender Erwachsener, die vorgeben zu wissen, was den Mädchen guttut, und ihnen einreden, sie würden es schon merken, wenn sie sich darauf einließen. Überwältigt ein Erwachsener ein Mädchen und nennt das Liebe, so verdoppelt sich dieser sexuelle Mißbrauch in der Beratung, in dem die "anteilnehmende" Beraterin dem Mädchen suggeriert, das Erzählen darüber täte ihr gut. []
Ich treffe in meinen Seminaren an der Fachhochschule zuweilen auf Studentinnen, denen feministische Therapeutinnen gesagt haben, daß sie in ihrer Kindheit sexuell mißbraucht worden sein müßten, auch wenn sie sich selbst nicht daran erinnerten. Diese Studentinnen sind verzweifelt und wie gelähmt.
Damit zusammen hängt, daß die Frauen von "Wildwasser" und ihre wissenschaftlichen Begleiterinnen sich die Welt als durchgängig gleichen und nach dem Muster des sexuellen Mißbrauchs strukturierten Kosmos vorstellen []. Es ist ein vormodernes Weltbild, in dem die Menschen nur auf Erlösung hoffen können, [] und als solche bietet sich "Wildwasser" an. In den Kreis aufgenommen werden diejenigen, die in der Beratung "Zeugnis" abgelegt haben. Die zum Teil recht militanten Gruppen bilden sich folglich nach Regeln von Sekten.
Von kleinen Mädchen läßt sich ein "Bekenntnis" naturgemäß leichter bekommen als von Jugendlichen. Vielleicht interessiert sich Wildwasser deshalb ganz besonders für sie. Zur Erinnerung: Der Prozentsatz an Vermutungen war bei kleinen Mädchen besonders hoch und, eine weitere Information, bei vermutetem sexuellen Mißbrauch durch Väter oder Lebenspartner lebten die Mütter überwiegend von dem Mann, den sie verdächtigten, getrennt. Zum Teil ging es um Sorgerechtsverfahren, bei denen ein Mißbrauchsverdacht, wie die Erfahrung zeigt, besonders sorgsam zu prüfen wäre. []
Geht es bei den Mädchen darum, den sexuellen Mißbrauch aufzudecken, so bei den Müttern darum, ihn anzuerkennen. [] Bevor die "Absolution" erteilt werden kann, brauchen die Beraterinnen von "Wildwasser" ein Geständnis der Mutter und ein Bekenntnis zum Glauben. [] Zitat: "[] Im Fall der weiteren Bedrohung kreist jede Beratungsstunde um die Frage des Glaubens, weil die Mitarbeiterinnen nur sicher sein kann, daß eine Mutter ihr Kind schützt, wenn sie den Mißbrauch als Tatsache begreift".
Eine Mutter (weichgekocht?): "Was man braucht, sind immer wieder Gespräche darüber, daß man selbst glauben kann.".
Zur Zufluchtswohnung: Hervorzuheben ist hier, daß ein nicht geringer Teil der überwiegend unter 14jährigen Mädchen per Gerichtsbeschluß und zwangsweise dort untergebracht werden, weil Professionelle sexuellen Mißbrauch aufgedeckt haben oder zu haben glauben. Zu zwei Dritteln führte der Weg in die Zufluchtswohnung über die staatliche Jugendhilfe. Mir drängt sich spätestens an dieser Stelle die Frage auf, ob es sich dabei nicht eher um eine Neuauflage von etwas Altem handelt, nämlich schlicht um die Internierung von früher so genannten "sexuell verwahrlosten" Mädchen durch mitleidlose Fürsorgerinnen, denen jedes Gespür für das Traumatische einer Zwangsunterbringung abhanden gekommen ist.