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Walser K.

Sexueller Mi�brauch und weibliches Bewu�t-Sein: Eine Kritik am Modellprojekt "Wildwasser"

in Rutschky, Wolff (ed.), Handbuch sexueller Mi�brauch, Klein, Hamburg, S.259-278 (1994)

Zu diesem Aufsatz habe ich mich entschlossen, weil ich durch die Art, wie der feministische Kampf gegen sexuellen Mi�brauch gef�hrt wird, zutiefst beunruhigt bin. []

Weil eine ernsthafte Diskussion nur anhand von konkretem Material m�glich ist und um meine Argumente �berpr�fbar zu machen, habe ich mich dazu entschlossen, anhand des Berichts von "Wildwasser - Arbeitsgemeinschaft gegen sexuellen Mi�brauch von M�dchen e.V., Berlin" �ber das Modellprojekt "Beratungsstelle und Zufluchtswohnung f�r sexuell mi�brauchte M�dchen" meine Kritik an der feministischen Beratungsarbeit gegen sexuellen Mi�brauch zu formulieren. []

[] "Es verlangt st�ndige Aufmerksamkeit, um nicht aus der (T�chter-)Position heraus und vielleicht der Erfahrung eigener Verletzungen in der Kindheit, f�r die die Mutter verantwortlich gemacht wurde, den patriarchalen, beschuldigenden Blick z.B. auf die Mutter zu �bernehmen, sondern den Blick auf ihre gesellschaftliche Lebenssituation beizubehalten." Treffender k�nnte man es nicht formulieren, was den Kern dieser Art feministischen Theoriebildung ausmacht: Wenn uns am eigenen Geschlecht etwas schmerzt, was wir sehen, schauen wir einfach weg von der Frau auf die Situation um sie herum.

"Totalangriff auf das Menschensein"

Der erste Teil der Untersuchung tr�gt die �berschrift "Lebenssituation sexuell mi�brauchter M�dchen". Die Formel der Mitarbeiterinnen dazu lautet: "Sexueller Totalangriff auf das Menschensein". Unter dem Stichwort "Angriff auf die Pers�nlichkeit" werden Zitate von M�dchen versammelt, die davon handeln, da� sie sexuelle �bergriffe seitens erwachsener M�nner als "nicht normal", "unangenehm", "irgendwie komisch" empfanden, da� sie keine Worte daf�r hatten und nicht verstanden, was passierte, und da� sie nicht dachten, da� andere das auch erlebten.

Zur�ck zu den M�dchen, aus deren Mitteilungen hervorgeht, da� sie die betreffenden V�ter oder Stiefv�ter leibten. Ein Fall wird erw�hnt, bei dem ein M�dchen weg wollte von der Mutter zum Vater []. �ber das Leben der M�dchne erf�hrt man so gut wie nichts. Wenn die Autoren siebzig Seiten sp�ter allerdings behaupten, "keine Anhaltspunkte f�r die von einigen Autoren vertretene These gefunden zu haben, da� M�dchen immer auch eine positive Beziehung zum T�ter h�tten", fragt man sich, ob die Mitarbeiterinnen und Forscherinnen sich f�r das Leben der M�dchen vielleicht deshalb gar nicht interessieren, weil das genaue Hinschauen ihr vereinfachtes Weltbild st�ren w�rde.

[] Auf jeden Fall aber hei�t, den "Mi�brauch zu verarbeiten", bei "Wildwasser" nichts anderes, als sich die Sicht von "Wildwasser" anzueignen. Jede, die eine andere Sicht zum Ausdruck bringt, hat dann eben alles nur noch nicht richtig verarbeitet. []

Meine Erfahrung mit Erzieherinnen ist, da� sie, nach entsprechenden Fortbildungen oder angeleitet von spezialisierten Psychologinnen vollkommen unreflektiert beginnen, in ihren Kinderg�rten Signale sexuell zu deuten und nach Kindern zu "fahnden", die zu den Signalen passen. Wie die Praxis zeigt, werden solche Kinder immer gefunden, denn die angeblichen Verhaltenssignale sind so diffus gefa�t, da� sie auf nahezu alle Heranwachsenden irgendwann einmal zutreffen. Es werden nach meiner Erfahrung allerdings typischerweise solche Kinder herausgegriffen, zu denen und zu deren Eltern einen Kontakt herzustellen bislang nicht m�glich war. []

Die Beratungsarbeit bei Wildwasser folgt autorit�ren Mustern. Sie ist nicht auf Verstehen, sondern auf Handeln, meist unter Zeitdruck, ausgerichtet. Notfalls soll ein M�dchen der Mutter auch "gegen ihren Willen" entzogen werden. Vertraulichkeit ist in der Beratung nicht garantiert. Den Klientinnen wird erkl�rt, da� ihre Informationen im Team weitergereicht und eventuell weitere Einrichtungen und Personen "eingeschaltet" werden. M�tter werden �ber die Gespr�che mit den M�dchen informiert, h�ufig auch umgekehrt.

[] "Alles erz�hlen" hei�t bei Wildwasser immer "Mi�brauchserfahrungen erz�hlen". Und wenn die M�dchen das nicht von alleine tun, dann legt die Beraterin es ihr in den Mund, wie folgender Bericht einer Beraterin zeigt: "[] Ich habe zu ihr gesagt: 'Du, ich dneke, da� dein Vater dich auch sexuell mi�braucht hat, da� er dich angefa�t hat, Sachen mit dir gemacht hat, die du nicht wolltest. Und wie ist das, ist mein Gef�hl richtig?' Und sie hat dann 'ja' gesagt. []"

Ein anderes Beispiel "[] Und dann mu� ich fragen: 'Kennst du das Gef�hl irgendwoher?' oder f�r sie aussprechen: 'Ich denke, das erinnert dich vielleicht an den Mi�brauch'. Diese R�ckschl�sse m�ssen wir oft f�r die M�dchen ziehen." Ein drittes Beispiel: "Sie sind in einer Beratungsstelle, wo es um sexuellen Mi�brauch geht. Vieles, womit Sie heute zu tun haben, hat mit diesen Erfahrungen zu tun.".

Frappierend an den Darstellungen solcherart Beratungen ist, wie unbek�mmert die Beraterinnen sich in die Position von Magierinnen setzen: Sie sind es, die die R�ckschl�sse ziehen, und sie sind es, die wissen, womit alles zusammenh�ngt. So etwas ist nicht Beratung, sondern Zauberei, oder, unfreundlicher ausgedr�ckt: nicht weit entfernt von Gehirnw�sche, die soweit geht, da� M�dchen und Frauen nicht nur das in den Mund gelegt wird, was die Beraterin h�ren will, da� ihre R�ckschl�sse den M�dchen aufgedr�ngt werden, nein, es geht sogar so weit, da� die "Erinnerungen" der M�dchen "korrigiert" werden. Durch Erinnerungskorrekturen sollen die M�dchen die Schuldgef�hle genommen und ihnen klargemacht werden, "wie der Mi�braucher alles geplant und inszeniert" habe.

Dazu ein M�dchen: "Na ja, vor allem hat sie (die Beraterin) mir zu verstehen gegeben mit der Zeit, woran ich jetzt auch glaube, da� ich eigentlich �berhaupt keine Schuld habe, da� ich nicht schlecht bin." Das klingt zwar vordergr�ndig frauen- und m�dchenfreundlich, ist es aber ganz und gar nicht. Freundlich w�re, wenn die Beraterinnen sich tats�chlich mit den M�dchen und ihren Schuldgef�hlen besch�ftigen w�rden. Dann w�rde sie n�mlich darauf kommen, da� diese mit der Geplantheit oder Nicht-Geplantheit der Tat durch den Mann erst mal gar nichts zu tun haben, sondern mit psychischen Mechanismen im M�dchen selbst: Es sch�mt sich, weil es dem sexuellen Mi�brauch sein kindliches Selbst opfert, und es hat Schuldgef�hle, weil es in seinen Augen "selbsts�chtig" und wider besseres Wissen in einer Beziehung zu einem Erwachsenen verharrt, der es sexuell mi�braucht hat, aus Angst, die Beziehung zu verlieren. Den Erinnerungen an dieses psychische Dilemma aber wird von den Beraterinnen nicht zur Sprache verholfen, sondern diese werden "korrigiert", wie sie sagen. []

Die Beraterinnen verhalten sich in der Interaktion mit den M�dchen exakt nach dem Muster mi�brauchender Erwachsener, die vorgeben zu wissen, was den M�dchen guttut, und ihnen einreden, sie w�rden es schon merken, wenn sie sich darauf einlie�en. �berw�ltigt ein Erwachsener ein M�dchen und nennt das Liebe, so verdoppelt sich dieser sexuelle Mi�brauch in der Beratung, in dem die "anteilnehmende" Beraterin dem M�dchen suggeriert, das Erz�hlen dar�ber t�te ihr gut. []

Ich treffe in meinen Seminaren an der Fachhochschule zuweilen auf Studentinnen, denen feministische Therapeutinnen gesagt haben, da� sie in ihrer Kindheit sexuell mi�braucht worden sein m��ten, auch wenn sie sich selbst nicht daran erinnerten. Diese Studentinnen sind verzweifelt und wie gel�hmt.

Damit zusammen h�ngt, da� die Frauen von "Wildwasser" und ihre wissenschaftlichen Begleiterinnen sich die Welt als durchg�ngig gleichen und nach dem Muster des sexuellen Mi�brauchs strukturierten Kosmos vorstellen []. Es ist ein vormodernes Weltbild, in dem die Menschen nur auf Erl�sung hoffen k�nnen, [] und als solche bietet sich "Wildwasser" an. In den Kreis aufgenommen werden diejenigen, die in der Beratung "Zeugnis" abgelegt haben. Die zum Teil recht militanten Gruppen bilden sich folglich nach Regeln von Sekten.

Von kleinen M�dchen l��t sich ein "Bekenntnis" naturgem�� leichter bekommen als von Jugendlichen. Vielleicht interessiert sich Wildwasser deshalb ganz besonders f�r sie. Zur Erinnerung: Der Prozentsatz an Vermutungen war bei kleinen M�dchen besonders hoch und, eine weitere Information, bei vermutetem sexuellen Mi�brauch durch V�ter oder Lebenspartner lebten die M�tter �berwiegend von dem Mann, den sie verd�chtigten, getrennt. Zum Teil ging es um Sorgerechtsverfahren, bei denen ein Mi�brauchsverdacht, wie die Erfahrung zeigt, besonders sorgsam zu pr�fen w�re. []

Geht es bei den M�dchen darum, den sexuellen Mi�brauch aufzudecken, so bei den M�ttern darum, ihn anzuerkennen. [] Bevor die "Absolution" erteilt werden kann, brauchen die Beraterinnen von "Wildwasser" ein Gest�ndnis der Mutter und ein Bekenntnis zum Glauben. [] Zitat: "[] Im Fall der weiteren Bedrohung kreist jede Beratungsstunde um die Frage des Glaubens, weil die Mitarbeiterinnen nur sicher sein kann, da� eine Mutter ihr Kind sch�tzt, wenn sie den Mi�brauch als Tatsache begreift".

Eine Mutter (weichgekocht?): "Was man braucht, sind immer wieder Gespr�che dar�ber, da� man selbst glauben kann.".

Zur Zufluchtswohnung: Hervorzuheben ist hier, da� ein nicht geringer Teil der �berwiegend unter 14j�hrigen M�dchen per Gerichtsbeschlu� und zwangsweise dort untergebracht werden, weil Professionelle sexuellen Mi�brauch aufgedeckt haben oder zu haben glauben. Zu zwei Dritteln f�hrte der Weg in die Zufluchtswohnung �ber die staatliche Jugendhilfe. Mir dr�ngt sich sp�testens an dieser Stelle die Frage auf, ob es sich dabei nicht eher um eine Neuauflage von etwas Altem handelt, n�mlich schlicht um die Internierung von fr�her so genannten "sexuell verwahrlosten" M�dchen durch mitleidlose F�rsorgerinnen, denen jedes Gesp�r f�r das Traumatische einer Zwangsunterbringung abhanden gekommen ist.