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Armstrong L.

Der doppelte Mi�brauch

Rowohlt, Hamburg (1996)

Deutsche �bersetzung von:

Rocking the Cradle of Sexual Politics

Addison-Wesley, New York (1994)

Kommentar

Das beste Buch, was ich je von einer feministischen Kindersch�tzerin gelesen habe. Obwohl sie nat�rlich P�dophile als ihre Feinde ansieht, finde ich mehr gemeinsames mit ihrer Position als ich je erwartet h�tte.

Die Auswahl der Ausschnitte wird aus Zeitmangel ziemlich parteilich. Es gibt halt viel, dem ich zustimmen kann.

Mike.

Ausschnitte

�ber die staatliche "Hilfe"

[p. 106] Um die Mitte der 80-er Jahre h�rte ich erste Berichte von Menschen, die als Kinder der Versuchung erlegen waren, "es" zu erz�hlen - und weggebracht worden waren. In Verbindung mit den darauffolgenden Ereignissen gebrauchte niemand von ihnen auch nur ein einziges Mal das Wort Hilfe.

[p. 226] Wie meine Freundin Tracy meint, die ihren Vater beschuldigte, als sie 13 war, und daraufhin vier Jahre lang zu therapeutischen Sitzungen gezwungen wurde: "Sie sagten dauernd, ich sei nicht schuld daran. Aber die Therapie mu�te ich machen, und auch da wiederholten sie dauernd, ich sei nicht schuld. Prima. Mir war das sowieso klar. Wenn ich es also wu�te und sie es wu�ten - warum mu�ten wir dann immer noch dar�ber sprechen?

[p. 276] Immer mehr Menschen haben - nachdem sie allzu oft mitansehen mu�ten, was mit Kindern passiert, die von Mi�brauch erz�hlen und dann zum Gegenstand staatlicher Eingriffe werden - im Laufe der letzten Jahre begonnen, vorsichtig auf die Kinder einzuwirken, nicht unaufgefordert von dem zu reden, was das System auf sie aufmerksam machen k�nnte. So sagte eine feministische Beraterin, selbst eine �berlebende, k�rzlich zu mir (wobei sie aus verst�ndlichen Gr�nden um Anonymit�t bat): "Ich sage den Kindern, sie sollen den Mund halten. Ich sage ihnen, was ich wei�: 'Die Vergewaltigung hat irgendwann ein Ende. Aber das System ist ein lebensl�ngliches Urteil.'"

[p.280] Als ich mich daher aufmachte, einmal nachzusehen, was staatliche Intervention in der Realit�t eigentlich f�r die Kinder bedeutet, befand ich mich pl�tzlich in einem abgesonderten Universum: der Jugendf�rsorge. Hier herrscht eine v�llig andere Gruppe von Fachleuten, und es gelten ganz andere Ma�st�be. Und ich sah mich praktisch allein mit meinen Fragen, wie es eigentlich mit den jungen Inzest-Opfern weitergegangen war, die getan hatten, wozu wir ihnen rieten: die den Mund aufgemacht hatten. Als ich dann entdeckte, wie schnell als Mi�brauchsopfer erkannte Kinder Gegenstand psychiatrischer Etikettierungen wurden und ihnen die Kennzeichnung "besondere Bed�rfnisse" angeh�ngt wurden, geriet ich bei meinen Nachforschungen �ber den Lebensweg dieser Kinder in eine weitere geschlossene Welt - die Welt der Kinder in Institutionen, die sich als psychiatrisch oder therapeutisch bezeichnen. (Diese Reise habe ich beschrieben in And they call it help: the Psychiatric Policing of America's Children, REading, Mass., Addison-Wesley 1993.) Hier nun herrschte eine andere Sorte von Fachleuten, und auch hier war ich praktisch allein mit meinen gezielten Fragen zu dem Weg, der jungen Inzest-Opfern vorgezeichnet ist. Anw�ltinnen, die Kinder verteidigen, sch�tzen, da� "sehr viele" (bis zu 75%) der Kinder in diesen psychiatrischen Einrichtungen Inzest-Opfer sind.

Die Vermutung l�ge nahe, da� diese Kinder durch die Vergewaltigung psychisch so schwerwiegend gest�rt waren, da� sie einen Aufenthalt an solchen Orten "brauchten", wo sie strenger Reglementierung, einer Behandlung mit Psychopharmaka, Einschr�nkungen und Isolierung unterworfen waren. Das traf allerdings in keiner Weise zu.

Hier wirkten ganz andere Dinge hinein und diktieren die Zwangsunterbringung der Kinder. Erstens f�hrte die Annahme, Inzest verursache zwangsl�ufig emotionale Sch�den, dazu, da� diese Kinder penibel auf jede Nichtangepa�theit oder Verhaltensauff�lligkeit oder jedes Aufbegehren gegen die Verh�ltnisse untersucht wurden. Sobald ein Kind erstmal als Inzest-Opfer erkannt war, wurde es auf Symptome hin beobachtet, und selbst normale, alterstypische kindliche Reaktionen wurden als klinische Symptome gedeutet, die zum Krankheitsbild des individuellen Kindes geh�rten.

Und au�erdem wu�ten die eingreifenden Jugendschutzbeh�rden oft nicht, wohin sie die Kinder sonst stecken sollten Einrichtungen mit derm T�rschild "therapeutisch" waren einfach irgendein Ort.

Und drittens wurden die Kinder im Laufe der 80er Jahre zur melkenden Kuh der institutionellen Psychiatrie. Explosionsartig vermehrten sich die privaten psychiatrischen Einrichtungen, die auf den station�ren Aufenthalt von Kindern spezialisiert waren. [] Im Laufe der 80er Jahre wurde die Skala kindlicher Probleme �ber alle erdenklichen Betragensm�ngel und Verhaltensst�rungen hinaus sogar auf Rechenschw�che ausgedehnt.

[p. 285] Meine Freundin Tracy dr�ckt das ganz unmi�verst�ndlich aus. Sie beschuldigte ihren Vater des Mi�brauchs, als sie 13 war, und verbrachte kurze Zeit in einer Pflegefamilie (mit gerichtlich angeordneter [p. 286] Therapie). Ein psychatrisches Gutachten brachte ihr drei Jahre in verschiedenen Psychiatrie-Einrichtungen ein. Ich fragte Tracy, wie sie diese Reaktion auf ihr Problem empfunden habe.

"[] Es gibt soviel 'Behandlung' daf�r, da� es schon nicht mehr komisch ist. Aber niemand macht sich Gedanken dar�ber, was f�r eine Art von Behandlung das ist. Man redet nicht dar�ber, da� der ganze Kram niemandem hilft. [] Ich habe den Eindruck, es ist ein Krieg darum im Gange, wer welche Kinder zur Behandlung kriegt.

Aber tief in mir hab ich das deutliche Gef�hl, da� man einen Krieg gegen die 'Behandler' f�hren sollte. An manchen Tagen m�chte ich einfach hingehen und all die Kinder in 'Behandlung' freilassen - sie rauslassen, wie die Tiersch�tzer die Nerze rauslassen. Sie befreien. Aber was werden diese Kinder dann machen?

[p. 286] Es braucht uns nicht zu �berraschen, da� die Kinder, denen wir gesagt haben, sie sollten alles erz�hlen - diese Kinder, die dann Opfer von Sorgerechtsprozessen wurden, in endlose Therapien gezwungen wurden - wieder zum Schweigen gebracht wurden. Nicht wenige von ihnen haben mir zu verstehen gegeben, da� es schwerer war, die anschlie�ende "Hilfe" und "Behandlung" zu �berleben, als den Inzest zu ertragen.

Was ihnen widerfuhr, wirkte auf sie wie eine Bestrafung. Da half es nichts, da� man ihnen immer wieder versicherte, sie seien nicht schuld an dem Inzest.

Inzest als Form sexueller Sklaverei

[p.284] [Man] hat [] selten erw�hnt, da� die Vergewaltiger Personen sind, denen die Kinder gehorchen m�ssen. Das ist einer der vorrangigen Hindernisse bei der Inzest-Pr�vention (im Unterschied zum sexuellen Kindesmi�brauch im allgemeinen). Gehorsam ist ein Teil des Problems. Hier bekommt man keine Medaillen daf�r, da� man wegl�uft oder sich dem, der einen gefangenh�lt, entzieht [].

[] ein grundlegendes Menschenrechts-Argument: V�terliche Kindesvergewaltigung ist eine Form sexueller Sklaverei in einer Gesellschaft, in der Sklaverei ausdr�cklich als gesetzwidrig gilt.

Wir reden hier nicht etwa von dem Recht eines kleinen M�dchens, sich zu weigern, ihre Hausaufgaben zu machen oder ihr Zimmer aufzur�umen. Wir sprechen von der sexuellen Versklavung durch den T�ter. Seine Position erlaubt ihm, sowohl legale als auch illegale Forderungen zu erheben, und zwar routinem��ig. []

[] eine solche Sicht des Inzest als sexuelle Versklavung w�rde zumindest deutlicher benennen, was eigentlich die T�ter tun (statt sich sp�ter auf die emotionalen Defekte der Opfer zu konzentrieren). Und es w�re endlich mal die Rede von Rechenschaftspflicht. Eine klare Benennung als "sexuelle Sklaverei" w�rde Inzest zumindest als Ausbeutung zugunsten des Sklavenhalters einordnen.

Sie werden sich daran erinnern, da� es selbst w�hrend der Verahndlungen �ber die Formulierung des 13. Zusatzartikels zur amerikanischen Verfassung Leute gab, die einen deutlichen Zusammenhang zwischen der Versklavung der Schwarzen in unserem Land und dem Status von Kindern sahen. Ja, einigen sprang dieser Zusammenhang so ins Auge, da� sie Kinder ausdr�cklich vom Schutz eines Verbots der Sklaverei ausgenommen wissen wollten.

�ber die Therapiebewegung

[p. 233] Dies also hatte das Leben uns gebracht: einen Freizeitpark zur individuellen Inzestbew�ltigung.

Es war ein Freizeitpark mit eindeutig spiritualistischem Einschlag. Immer weniger war das Behandlungs- und Heilungs-Versprechen von den Versprechungen von Lourdes zu unterscheiden. Die Werbung trug bereits evangelikalische Z�ge, und die Ver�ffentlichungen �hnelten denen einer religi�sen Erweckungsbewegung. Von Anfang an hatte das Beschwatzen und Gutzureden zur "Genesung" wie eine Aufforderung zur Bekehrung geklungen. [Zitat Engel 1982]

Oft scheinen die Anweisungen in den B�chern darauf abzuzielen, [p.234] Frauen auf das Kindische und Infantile zu reduzieren: "Erinnern Sie sich an die wunderbare W�rme und Sicherheit, die sie versp�rten, wenn Sie als Kind ihr Lieblingsspielzeug im Arm hielten?" schreibt Engel. "Ihr inneres Kind braucht diesen Trost auch jetzt. Gehen Sie mit ihrem inneren Kind, dem kleinen M�dchen, in ein Gesch�ft, und suchen Sie sich in aller Ruhe das richtige Stofftier ode die richtige Puppe f�r ihren Genesungsproze� aus."

In Trotz allem wird von einer Frau berichtet, die sich selbst Geburtstagsparties ausrichtete. [] Eine andere Frau, erfahren wir, "richtete f�r die verletzten Kinder in ihr ganze Spielzimmer ein."

Nochmals: Ich habe kein Interesse daran, zu bestreiten, da� es tats�chlich ein solches Ph�nomen gibt wie das neuerdings mit dem Etikett Multiple Pers�nlichkeitsst�rung bezeichnete; dennoch ist es �u�erst interessant, da� die intensive Wiederbelebung des "inneren Kindes" (des Kleinkindes, der Heranwachsenden) dem voranging, was jetzt allgemein als eine Epidemie solcher St�rungen betrachtet wird.

Frauen wurden lebhaft gedr�ngt, das Phantomkind zum Leben zu erwecken: mit ihm (ihr?) zu sprechen, es zu tr�sten, mit ihm umzugehen, als sei es wirklich und nicht nur vorgestellt.

[] Entgeistert starre ich auf die zw�lf Schritte f�r Inzest-�berlebende in einer Brosch�re von Sexual Abuse Anonymous; die Schritte sehen folgenderma�en aus:

Ich frage Sie: W�re dieses Zw�lf-Punkte-Programm von Vergewaltigern aufgestellt worden, h�tten sie dieses Programm von S�nde und Vergebung wohl noch �berbieten k�nnen?

�ber rituellen Mi�brauch

[La Fontaine 1994 �ber eine Studie f�r das britische Gesundheitsministerium]

[Cone & Scheer 1993 �ber extrem rechte Positionen - La Haye]

[p. 270] Fundamentalisten, der rechte christliche Fl�gel, gew�hnliche B�rger ... sie alle w�ren mehr als gl�cklich, Satansj�nger, Kultanh�nger und Ritualisten alle miteinander aus dem Land zu jagen. Bisher scheint es ihnen einfach nicht zu gelingen, sie dingfest zu machen. Hingegen sind nur wenige Menschen auch nur im entferntesten so �berzeugt, da� man h�usliche Gewaltt�ter bestrafen mu� - und dabei haben die doch Gesichter und Namen und sind ganz und gar nicht schwer zu finden.

�ber den Backlash

[p. 245] Eines der wesentlichen ausl�senden Momente f�r die Reaktion (den Backlash), die uns in diesen Morast f�hrte, war der wohlbekannte emotionale Katalysator Geld.

1980 hatte ich zum ersten Mal davon geh�rt, da� Frauen ihre V�ter oder Stiefv�ter wegen sexuellen Kindesmi�brauchs verklagten oder verklagen wollten. [] "Damit kriegen wir sie da zu fassen, wo es ihnen weh tut", sagten die �berlebenden. [p. 246] Ja - genau das war es. Es war doch noch nichts vorbereitet, um mit dem, was zumindest ich f�r das vorhersehbare Ergebnis hielt, fertig zu werden. Denn ob die Verfahren in jedem einzelnen Fall nun erfolgreich waren oder nicht - unterm Strich w�rde das die kollektive Wut der Beschuldigten ausl�sen.

[p.256] Und so haben wir es bei diesem ganzen Fandango der "falschen Erinnerungen" ganz offensichtlich mit einer Gegenreaktion zu tun, die zugleich mehr und weniger ist als eine von der Brieftasche angetriebene Bewegung. Ein Teil des Backlash wird zweifellos von echter Ratlosigkeit bewegt; ein anderer Teil f�hlt sich getroffen von den unbewiesenen Vorw�rfen jahrelang zur�ckliegender Verfehlungen. Mit anderen Worten: F�r einige bestand der Antrieb in finanziellen Interessen, bei anderen war es Selbstschutz, bei den dritten echte Beunruhigung �ber den offensichtlichen Irrtum.