[...]
[p.39-40] Der Sex ist zum Einsatz, zum �ffentlichen Einsatz zwischen Staat und Individuum geworden; ein ganzer Strang von Diskursen, von Wissen, Analysen und Geboten hat ihn besetzt. Das gilt auch f�r den Sex der Kinder, von dem man h�ufig sagt, er sei vom klassischen Zeitalter in ein Dunkel gedr�ngt worden, aus dem er erst seit dem Drei Abhandlungen oder den segensreichen �ngsten des kleinen Hans wieder habe hervortreten k�nnen. Sicher stimmt es, da� eine fr�here "Freiheit" der Sprache zwischen Kindern und Erwachsenen oder Sch�lern und Schulmeistern verschwunden ist. Kein P�dagoge des 17. Jahrhunderts h�tte mehr �ffentlich - wie Erasmus in seinen Dialogen - seinen Sch�lern in der Wahl einer guten Prostituierten unterwiesen. Und das schallende Gel�chter, das so lange und offenbar in allen sozialen Klassen die fr�hreife Sexualit�t der Kinder begleitet hatte, ist nach und nach verstummt. Dennoch handelt es sich keineswegs um ein reines und einfaches Schweigegebot. Es handelt sich eher um ein neues Regime der Diskurse. Man sagt nicht weniger, im Gegenteil. Aber man sagt es anders, es sind andere Leute, die es sagen, von anderen Gesichtspunkten aus und um anderer Wirkungen willen. [...] Es gibt eine Vielzahl von Schweigen, und sie sind integrierter Bestandteil der Strategien, welche die Diskurse tragen und durchkreuzen.
[p.40-41] Man sehe sich die Bildungsanstalten des 18. Jahrhunderts an. Global betrachtet kann man zu dem Eindruck kommen, da� praktisch nicht mehr vom Sex geredet wird. Doch braucht man nur einen Blick auf die architektonischen Einrichtungen, auf die Disziplinarreglements und die gesamte innere Organisation zu werfen: unaufh�rlich dreht sich alles um Sex. Die Architekten haben daran gedacht, und zwar ganz ausdr�cklich. Die Organisatoren stellen ihn best�ndig in Rechnung. Alle, die eine gewisse Autorit�t innehaben, wachen unerm�dlich dar�ber, da� die einmal getroffenen Anordnungen und Vorsichtsma�nahmen, das Spiel der Strafen und Verantwortlichkeiten unabl�ssig wiederholt und angewendet werden. Der Klassenraum, die Form der Tische, die Gew�hrung von Ruhepausen, die Unterteilung der Schlafs�le (mit Trennw�nden oder ohne, mit Vorh�ngen oder ohne), die f�r die �berwachung des Zubettgehen vorgesehenen Regeln, alles das verweist in der beredtesten Weise auf die Sexualit�t der Kinder. Das was man den internen Diskurs der Institution nennen k�nnte - der Diskurs, den sie sich selbst h�lt und den diejenigen halten, die sie funktionieren lassen - beruht zum gro�en Teilauf der Feststellung, da� diese Sexualit�t existiert: fr�hreif, aktiv und permanent.
[p.41-42] Aber es geht noch weiter: der Sex des Kollegiaten ist - in weit st�rkerem Ma�e als der der Jugendlichen im allgemeinen - im Laufe des 18. Jahrhunderts zu einem �ffentlichen Problem geworden. Die �rzte wenden sich an die Anstaltsleiter und Lehrer, erteilen aber auch den Familien ihre Ratschl�ge; die P�dagogen entwickeln Pl�ne, die sie den Autorit�ten unterbreiten; die Erzieher wenden sich ihren Sch�lern zu, geben ihnen Empfehlungen oder verfassen Schriften mit Ratschl�gen, moralischen oder medizinischen Beispielen f�r sie. Um den Z�gling und seinen Sex herum schie�t eine ganze Literatur von Vorschriften, Ratschl�gen,Beobachtungen, medizinischen Anweisungen, klinischen F�llen, Reformvorhaben und Pl�nen f�r ideale Anstalten aus dem Boden. Mit Basedow und der deutschen "philantropischen" Bewegung hat die Diskursivisierung des Sexes eine betr�chtliche Ausdehnung gewonnen. Saltzmann hatte sogar eine Experimentalschule eingerichtet, deren Besonderheit in einer so ausgekl�gelten Kontrolle und Erziehung des Sexes bestand, da� es nie zu der universellen S�nde der Jugend kommen sollte.
[p.42] Und in all diesen Ma�nahmen sollte das Kind nicht nur das stumme und bewu�tlose Objekt von Bem�hungen sein, die einzig zwischen den Erwachsenen abgesprochen waren, sondern man zwang ihm einen vern�nftigen, begrenzten, anst�ndigen und wahren Diskurs �ber den Sex auf - eine Art diskursiver Orthop�die. Das gro�e, im Mai 1776 im Philanthropium veranstaltete Fest mag hier zur Illustration dienen. In der Mischform von Pr�fung, Floraspielen, Preisverteilung und Musterung war es die erste heilige Kommunion des jugendlichen Sexes und des vern�nftigen Diskurses. Um die Erfolge der Sexualerziehung, die man den Sch�lern angedeihen lie� zu demonstrieren, hatte Basedow alles eingeladen, was Deutschland an Ber�hmtheiten aufzubieten hatte (Goethe war einer der wenigen gewesen, die der Einladung nicht folgten). Vor versammeltem Publikum stellt Wolke, einer der Lehrer, den Sch�lern ausgew�hlte Fragen �ber die Mysterien des Sexes, der Geburt und der Fortpflanzung; er l��t sie Stiche kommentieren, die eine schwangere Frau, ein Paar, eine Wiege darstellen. Die Antworten sind aufgekl�rt, frei von Scham und Zwang. Kein unschickliches Lachen unterbricht sie - au�er von Seiten eines erwachsenen Publikums, das offenbar kindischer ist als die Kinder selbst und von Wolke deshalb streng getadelt wird. (J. Schummel, Fritzens Reise nach Dessau (1776), zit. bei A. Pinloche, Geschichte des Philantropinismus, Leipzig 1986, S. 103-109).
[...]
[S. 43-44] Man k�nnte noch weitere Brennpunkte nennen, die vom 18. oder 19. Jahrhundert an begonnen haben, Diskurse �ber Sex hervorzubringen. Zun�chst die Medizin, auf dem Weg �ber die "Geisteskrankheiten", dann die Psychiatrie, die zuerst in der "Ausschweifung", dann in der Onanie, in der Unbefriedigtheit und im "Betrug an der Natur" die �tiologie der Geisteskrankheiten zu suchen beginnt, besonders von dem Augenblick an, wo sie die Gesamtheit der sexuellen Perversionen als ihr ureigenstes Gebiet annektiert; des weiteren die Strafjustiz, die lange Zeit mit der Sexualit�t vor allem in Gestalt der "ungeheuerlichen" oder widernat�rlichen Verbrechen konfrontiert gewesen war, und die sich nun, etwa seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, der kleinlichen Verurteilung der kleinen Verst��e, der geringf�gigen Vergehen und unbedeutenden Perversionen abgibt.
[...]
[p.44-45] An einem Tag im Jahre 1867 wird ein Landarbeiter aus dem Dorf Lapcourt, ein etwas einf�ltiger Mensch, den je nach Jahreszeit mal dieser und mal jener besch�ftigt, der aus ein bi�chen Mitleid und gegen harte Arbeit mal hier und mal da etwas zu essen bekommt und der in Scheunen und St�llen schl�ft, angezeigt: am Rande eines Feldes hatte er von einem kleinen M�dchen ein paar Z�rtlichkeiten ergattert, wie er es schon fr�her getan und gesehen hatte, wie alle Burschen und M�dchen um ihn herum es taten, wenn sie am Waldrand oder im Graben der Stra�e, die nach Saint-Nicolas f�hrt, das Spiel spielten, das man "Dickemilch" nannte. Er wird also von den Eltern beim B�rgermeister des Dorfes angezeigt, der B�rgermeister �bergibt ihn den Gendarmen, die f�hren ihn vor den Richter, welcher ihn anklagt und einem ersten Arzt anehimgibt, dann zwei weiteren Experten, die einen Bericht abfassen und schlie�lich ver�ffentlichen. (H. Bonnet et J.Bulard, Rapport medico-legal sur l'etat mental de Ch.J. Jour, 4. Jan. 1868). Die Bedeutung dieser Geschichte? Die liegt gerade in ihrer Kleinheit, darin, da� dieses Alltagsereignis in der d�rflichen Sexualit�t, diese kleinen L�ste hinter den B�schen von einem bestimmten Augenblick an zum Gegenstand nicht blo� einer kollektiven Intoleranz, sondern einer juristischen Aktion, einer medizinischen Intervention, einer klinischen Pr�fung und einer umfangreichen theoretischen Verarbeitung werden konnten.
[...]
[p.49] Die modernen Gesellschaften zeichnen sich nicht dadurch aus, da� sie den Sex ins Dunkel verbannen, sondern da� sie unabl�ssig von ihm sprechen und ihn als das Geheimnis geltend machen.
[...]
[p.69-70] Allein die Tatsache, da� man vorgab, vom gel�uterten und neutralen Gesichtspunkt einer Wissenschaft �ber den Sex zu reden, ist als solche schon bezeichnend. In der Tat handelte es sich um eine aus nichts als Ausweichman�vern bestehende Wissenschaft, deren Unf�higkeit oder Unwillen, vom Sex selber zu sprechen, sie dahin f�hrte, sich in erster Linie seinen Verirrungen, Perversionen Absonderlichkeiten, pathologischen Schwunderscheinungen und krankhaften �bersteigerungen zuzuwenden. Es handelte sich um eine Wissenschaft, die in ihrem Wesen den Imperativen einer Moral verpflichtet war, deren Teilungen sie unter dem Vorzeichen der medizinischen Norm wiederholte. Unter dem Vorwand der Wahrheit erweckte sie allerorten �ngste und sprach den geringf�gigsten Schwankungen der Sexualit�t einen imagin�ren Stammbaum der Krankheiten zu, die sich �ber Geenrationen hinweg ausbreiten sollten. Sie erkl�rte die heimlichen Gewohnheiten der Sch�chternen und die kleinen, einsamen Manien zu Gefahren f�r die gesamte Gesellschaft und stellte ans Ende der ungew�hnlichen L�ste nichts Geringeres als den Tod: den Tod der Individuen, den der Generationen, den der Spezies.
[p.70] Auf diese Weise hat sie sich mit einer zudringlichen und indiskreten medizinischen Praktik verbunden, die wortgewandt ihren Abscheu hinausposaunte, stets bereit, dem Gesetz oder der Meinung Beistand zu leisten, den Ordnungsm�chten williger ergeben als den Forderungen der Wahrheit. Ungewollt naiv in den besseren F�llen, weit h�ufiger aber willentlich verlogen, eine Komplizin dessen, was sie anprangert, trug sie hochm�tig und speichelleckerisch eine ganze Zotensammlung des Morbiden zusammen.
[...] Doch jenseits der wirren L�ste berief sie sich auf andere M�chte und bezog den souver�nen Standpunkt der Hygieneimperative, indem sie die alten �ngste vor der Geschlechtskrankheit mit den neuen Themen der Asepsie und die gro�en evolutionistischen Mythen mit den jungen Institutionen der �ffentlichen Gesundheitsf�rsorge zusammenschlo�. Sie gab vor, die physiche Kraft und moralische Sauberkeit des gesellschaftlichen K�rpers zu erhalten; sie versprach, die Tr�ger der Schande, die Degenerierten und die entarteten Bev�lkerungsteile auszumerzen. Im Namen einer dringenden biologischen und historischen Notwendigkeit rechtfertigte sie die drohend bevorstehenden Staatsrassismen. Sie begr�ndete sie in "Wahrheit".
[p.71] Vergleicht man die Diskurse �ber die menschliche Sexualit�t mit der Physiologie der tierischen und pflanzlichen Fortpflanzung zur gleichen Epoche, so �berrascht die Phasenverschiebung. Ihre Schw�che, nicht einmal was die Wissenschaftlichkeit angeht, sondern einfach das Fehlen jeder elementaren Rationalit�t, verleiht ihnen eine Sonderstellung in der Geschichte der Erkenntnisse. Sie bilden eine seltsam tr�be Zone. [...]
[p.75] Sp�testens seit dem Mittelalter haben die abendl�ndischen Gesellschaften das Gest�ndnis unter die Hauptrituale eingereiht, von denen man sich die Produktion der Wahrheit verspricht: Regelung des Bu�sakraments durch das Laterankonzil von 1215, die darauf folgende Entwicklung der Beichttechniken, in der Strafjustiz R�ckgang der Klageverfahren, Verschwinden der Schuldbeweise (Eid, Duell, Gottesurteil) und Entwicklung von Vernehmungs- und Ermittlungsmethoden, Kompetenzerweiterung der k�niglichen Verwaltung bei der Verfolgung von Vergehen auf Kosten der privaten Vergleichsverfahren, Einsetzung der Inquisitionsgerichte - all das hat dazu beigetragen, dem Gest�ndnis eine zentrale Rolle in der Ordnung der zivilen und religi�sen M�chte zuzuweisen. Die Entwicklung des Wortes "Gest�ndnis" (Foucault bezieht sich hier auf die Wortgeschichte von "aveu", das sich vom lateinischen "advocare" herleitet. Anm. D. �.) und der von ihm bezeichneten Rechtsfunktion ist an sich schon charakteristisch: Vom Gest�ndnis als Garantie von Stand, Identit�t und Wert, die jemandem von einem anderen beigemessen werden, ist man zum Gest�ndnis als Anerkennen bestimmter Handlungen und Gedanken als der eigenen �bergegangen.
[p.76] Die Wirkungen des Gest�ndnisses sind breit gestreut: in der Justiz, in der Medizin, in der P�dagogik, in den Familien- wie in den Liebesbeziehungen, im Alltagsleben wie in den feierlichen Riten gesteht man seine Gedanken und Begehren, gesteht man seine Vergangenheit und seine Tr�ume, gesteht man seine Kindheit, gesteht man seine Krankheiten und Leiden; mit gr��ter Genauigkeit bem�ht man sich zu sagen, was zu sagen am schwersten ist; man gesteht in der �ffentlichkeit und im Privaten, seinen Eltern, seinen Erziehern, seinem Arzt und denen, die man liebt; man macht sich selbst mit Lust und Schmerz Gest�ndnisse, die vor niemand anders m�glich w�ren, und daraus macht man dann B�cher. Man gesteht - oder man wird zum Gest�ndnis gezwungen. Wenn das Gest�ndnis nicht spontan oder von irgendeinem inneren Imperativ diktiert ist, wird es erpre�t; man sp�rt es in der Seele auf oder entrei�t es dem K�rper. Seit dem Mittelalter begleitet wie ein Schatten die Folter das Gest�ndnis und hilft ihm weiter, wenn es versagt: schwarze Zwillingsbr�der. Die waffenlosesten Z�rtlichkeiten wie die blutigsten M�chte sind auf das Beeknnen angewiesen. Im Abendland ist der Mensch ein Gest�ndnistier geworden.
[p.77] Die Verpflichtung zum Gest�ndnis wird uns mittlerweile von derart vielen verschiedenen Punkten nahegelegt, sie ist uns so tief in Fleisch und Blut �bergegangen, da� sie von uns gar nicht mehr als Wirkung einer Macht erscheint, die Zwang auf uns aus�bt; im Gegenteil scheint es uns, als ob die Wahrheit im Geheimsten unserer selbst keinen anderen "Anspruch" hegte, als den, an den Tag zu treten; da� es, wenn ihr das nicht gelingt, nur daran liegen kann, da� ein Zwang sie fesselt oder die Gewalt einer Macht auf ihr lastet, woraus folgt, da� sie sich letzten Endes nur um den Preis einer Art Befreiung wird �u�ern k�nnen. Das Gest�ndnis befreit, die Macht zwingt zum Schweigen.
[p.79] Nun bildete seit der christlichen Bu�e bis heute der Sex die privilegierte Materie des Bekennens. Er ist das, was man verbirgt, hei�t es. Und wenn er nun das w�re, was man in ganz besonderer Weise gesteht? Wenn die Pflicht, ihn zu verbergen, nur ein Aspekt der Pflicht w�re, ihn zu gestehen (was dann hie�e, ihn gut und sorgf�ltig zu verstecken, damit sein Gest�ndnis umso wichtiger wird, ein um so strengeres Ritual erfordert und um so entscheidendere Wirkungen verspricht)? Wenn der Sex in unserer Gesellschaft nun schon seit mehreren Jahrhunderten unter der nimmerm�den Herrschaft des Gest�ndnisses st�nde?
[p.84] ... wie ist man dazu gekommen, die ma�lose und traditionsreiche Erpressung des sexuellen Gest�ndnisses in wissenschaftlichen Formen zu konstituieren?
1. Durch eine klinische Kodifizierung des "Sprechen-Machens": das Bekenntnis mit der Pr�fung kombinieren, den Selbst-Bericht mit der Ausbreitung eines Komplexes von Zeichen und entschl�sselbaren Symptomen; die Befragung, den exakten Fragebogen und die Hypnose mit dem R�ckrufen der Erinnerungen, den freien Assoziationen: alles Mittel, um die Gest�ndnisprozedur in ein Feld wissenschaftlich akzeptabler Beobachtungen einzugliedern.
2. Durch das Postulat einer allgemeinen und diffusen Kausalit�t: alles sagen m�ssen, �ber alles verh�ren k�nnen - das wird seine Rechtfertigung in dem Prinzip finden, da� der Sex mit einer unersch�pflichen und polymorphen Kausalmacht ausgestattet ist. Das diskreteste Ereignis im sexuellen Verhalten - Unfall oder Abweichung, Mangel oder Exze� - wird f�r die unterschiedlichsten Konsequenzen im Lauf der Existenz f�r f�hig gehalten; es gibt kaum eine Krankheit oder psychische St�rung, f�r die das 19. Jahrhundert nicht eine zumindest teilweise sexuelle �tiologie ersonnen h�tte. Von den schlechten Angewohnheiten der Kinder bis zu den Schwinds�chten der Erwachsenen, den Schlaganf�llen der Alten, den Nervenkrankheiten und den Degenerationen der Rasse hat die Medizin ein ganzes Netz sexueller Kausalit�t gesponnen. Das mag uns wohl phantastisch erscheinen. Doch das Prinzip des Sexes als "Ursache von allem und jedem" ist das theoretische Gegenst�ck eines technischen Erfordernisses: in einer wissenschaftlichen Praktik die Prozeduren eine Gest�ndnisses funktionieren lassen, das gleichzeitig total, minuti�s und stetig sein mu�. Die unbegrenzten Gefahren, die vom Sex her drohen, rechtfertigen die ersch�pfende Inquisition, der man ihn unterwirft.
3.Durch das Prinzip einer der Sexualit�t innewohnenden Latenz: wenn man die Wahrheit des Sexes durch die Technik des Gest�ndnisses hervorzerren mu�, so nicht allein deshlab, weil sie schwierig auszusagen oder mit den Verboten des Anstands belegt ist, sondern weil das Funktionieren des Sexes selbst dunkel ist; weil das Entschl�pfen zu seiner Natur geh�rt und weil seine Energie und seine Mechanismen sich entziehen; weil seine Kausalmacht zum Teil im Geheimen arbeitet. [...] Das Prinzip einer wesenhaften Latenz der Sexualit�t gestattet es, den Zwang zu einem schwierigen Gest�ndnis an eine wissenschaftliche Praktik anzuschlie�en. Man mu� es hervorzerren, gewaltsam hervorzerren, weil es sich verbirgt.
4. Durch die Methode der Interpretation: wenn man gestehen mu�, so nicht blo� weil der, dem man gesteht, die Macht zu vergeben, zu tr�sten und zu leiten besitzt, sondern weil die zur Produktion der Wahrheit n�tige Arbeit, soll sie wissenschaftliche Geltung gewinnen, �ber diese Beziehung laufen mu�. [...] Der Zuh�rende ist nicht mehr blo� der Herr der Verzeihung oder der verurteilende oder freisprechende Richter; er wird der Herr der Wahrheit sein. [...]
5. Durch die Medizinisierung der Wirkungen des Gest�ndnisses: die Erlangung des Gest�ndnisses und seine Wirkungen werden in Form therapeutischer Operationen recodiert. [...] Zum ersten Mal definiert man eine dem Sexuellen eigene Krankhaftigkeit; der Sex erscheint als ein Feld hoher pathologischer Anf�lligkeit; Spiegelungsfl�che f�r die anderen Krankheiten, zugleich aber auch ein neuer Brennpunkt der Beschreibung von Krankheiten - des Triebes, der Neigungen und der Bilder, der Lust, des Verhaltens.
[p.126] Die P�dagogisierung des kindlichen Sexes geht von der zweifachen Behauptung aus, da� sich so gut wie alle Kinder sexueller Aktivit�t hingeben oder hingeben k�nnen und da� diese ungeh�rige (sowhl "nat�rliche" wie auch "widernat�rliche") sexuelle Bet�tigung physische und moralische, kollektive und individuelle Gefahren birgt; die Kinder werden als "vorsexuelle" Wesen an der Schwelle der Sexualit�t definiert, die sich diesseits des Sexes und doch schon in ihm auf einer gef�hrlichen Scheidelinie bewegen; die Eltern, die Familien, die Erzieher, die �rzte und sp�ter die Psychologen m�ssen diesen kostbaren und gef�hrlichen, bedrohlichen und bedrohten Sexualkeim in ihre stete Obhut nehmen; diese P�dagogisierung �u�ert sich vor allem im Krieg gegen die Onanie, der im Abendland fast zwei Jahrhunderte gedauert hat.
[p.131] Die zeitgen�ssische Familie ist nicht als eine soziale, �konomische und politische Allianzstruktur zu verstehen, die die Sexualit�t ausschlie�t oder zumindest einengt und auf die n�tzlichen Funktionen einschr�nkt. Die Familie hat vielmehr die Sexualit�t zu verankern und ihren festen Boden zu bilden. [...] Die Familie ist der Umschlagplatz zwischen Sexualit�t und Allianz [...].
Diese Verh�kelung von Allianz und Sexualit�t in der Familie macht einige Tatsachen verst�ndlich: da� die Familie seit dem 18. Jahrhundert ein obligatorischer Ort von Empfindungen, Gef�hlen, Liebe geworden ist; da� die Sexualit�t ihre bevorzugte Brutst�tte in der Familie hat; und da� sie sich aus diesem Grunde "inzestu�s" entwickelt. Mag sein, da� in den von den Allianzdispositiven beherrschten Gesellschaften das Inzestverbot eine funktionell unerl��liche Regel ist. Aber in einer Gesellschaft wie der unseren, in der die Familie der aktivste Brennpunkt der Sexualit�t ist und in der die Anforderungen der Sexualit�t die Familie erhalten und verl�ngern, nimmt der Inzest aus ganz anderen Gr�nden und auf ganz andere Weise einen zentralen Platz ein: hier wird er st�ndig bem�ht und abgewehrt, gef�rchtet und herbeigerufen - unheimliches Geheimnis und unerl��liches Bindeglied. Sofern die Familie als Allianzdispositiv funktioniert, ist der Inzest streng verboten, und gleichzeitig wird er st�ndig in Anspruch genommen, damit die Familie der Dauerbrennpunkt f�r die Sexualit�t bleibt.
[p.139]
Konzentriert man die Geschichte der Sexualit�t auf die Mechanismen der Repression, so st��t man auf zwei Bruchstellen. Die erste liegt im 17. Jahrhundert: Geburt der gro�en Sperrmechanismen, Monopolisierung der erwachsenen und ehelichen Sexualit�t, Schicklichkeitsgebote, obligatorische Ausschaltung des K�rpers, erzwungenes Schweigen und schamhaftes Sprechen. Im 19. Jahrhundert geht es dann weniger um einen Einbruch als um eine Neigung der Kurve: Von diesem Augenblick an beginnen sich die Mechanismen der Repression aufzulockern; von dr�ckenden Sexualverboten geht man zu einer gewissen Toleranz gegen vor- und au�ereheliche Beziehungen �ber; die Disqualifizierung von "Perversen" wird gemildert, ihre gesetzliche Verurteilung h�rt zum Teil auf; die Tabuisierung der Sexualit�t der Kinder wird zu einem Gutteil aufgehoben. [...]
Die Chronologie der Techniken reicht weit zur�ck. Ihr Entstehungsort mu� in den Bu�praktiken des mittelalterlichen Christentums aufgesucht werden oder vielmehr in einer doppelten Reihe: in dem obligatorischen, ersch�pfenden und periodischen Gest�ndnis, das allen Gl�ubigen durch das Laterankonzil zur Pflicht gemacht wurde, und in [p.140] den Methoden der Asketik, der geistlichen �bung und der Mystik, die seit dem 14. Jahrhundert mit einer besonderen Intensit�t entwickelt wurden. [...]
Am Ende des 18. Jahrhunderts entstand aber auch [...] eine ganz neue Technologie des Sexes, die zwar von der Thematik der S�nde nicht ganz unabh�ngig war, sich jedoch im wesentlichen dem kirchlichen Bereich entzog. Vermittels der P�dagogik, der Medizin und der �konomie machte sie aus dem Sex nicht nur iene Laiensache, sondern eine Staatssache. Oder besser: eine Angelegenheit, in der sich der gesamte Gesellschaftsk�rper und fast jedes seiner Individuen der �berwachung unterziehen mu�ten.
[p.141] die Sexualit�t der Kinder war bereits in der geistlichen P�dagogik des Christentums zum Problem gemacht worden (bezeichnenderweise stammt die erste Abhandlung �ber die S�nde der Mollities von dem P�dagogen und Mystiker Gerson im 15. Jahrhundert.; und die im 18. Jahrhundert von Dekker verfa�te Sammlung Onania �bernimmt Wort f�r Wort ihre Beispiele aus der anglikanischen Pastoraltheorie).
[p.174-175] Die Sexualisierung des Kindes vollzog sich in Form einer Kampagne f�r die Gesundheit der Rasse (die fr�hreife Sexualit�t ist vom 18. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts als eine epedemische Gefahr hingestellt worden, die nicht nur die k�nftige Gesundheit der Erwachsenen sondern auch die Zukunft der Gesellschaft und der gesamten Art bedroht).