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Loftus E., Ketcham K.

The Myth of Repressed Memory

St. Martin's Press: New York (1994)

aus: Nuber 1995, S. 111-113

In welch gro�em Ausma� unsere Erinnerungen beeinflu�bar sind, belegt eindrucksvoll eine "Erinnerung" des Entwicklungspsychologen Jean Piaget. Es geht dabei um eine Episode, als er zwei Jahre alt war. "Ich sehe die folgende Szene noch genau vor mir", erz�hlte er. "ich sa� in meinem Kinderwagen, mein Kinderm�dchen schob mich auf den Champ elysees spazieren, als ein Mann versuchte, mich zu kidnappen. Ich wurde von den Gurten des Kinderwagens festgehalten, w�hrend das Kinderm�dchen sich mutig zwischen mich und den Kidnapper stellte. Sie zog sich einige Kratzer zu, ich kann sie verschwommen immer noch auf ihrem Gesicht sehen..." Jedenfalls konnte er das bis zu seinem 15. Lebensjahr; damals erhielten die Eltern einen Brief des ehemaligen Kinderm�dchens, indem sie zugab, die ganze Geschichte erfunden zu haben. Sie gab auch die Uhr zur�ck, die sie damals als Belohnung f�r ihr tapferes Eingreifen erhalten hatte. Da� die Erinnerung bis dahin so klar und ohne Zweifel war, erkl�rte sich Piaget damit, da� er diese Geschichte wohl so ofr geh�rt und sich mit Hilfe seiner kindlichen Phantasie die entsprechenden Bilder dazu gemacht hatte. (S. 76 f)

[...] Kann die Erinnerung an tats�chlich Geschehenes ebenfalls im R�ckblick verf�lscht werden?

Dies ist durchaus m�glich, wie Elizabeth Loftus anhand ihrer [...] Erinnerung an den Tod ihrer Mutter beschreibt. Diese Erinnerung wurde mit dem zeitlichen Abstand nicht nur immer "bunter" und ausf�hrlicher, sie erfuhr sogar 30 Jahre sp�ter ein v�llig neue inhaltliche Wendung. Bis dahin war Loftus' letzte Erinerung an ihre Mutter, da� diese am Abend ihres Todes leise ins Zimmer ihrer Tochter kam, sie k��te und fl�sterte: "Ich liebe Dich". 30 Jahre sp�ter, am 90. geburtstag ihres Onkels Joe, "informierte mich ein Verwandter dar�ber, da� ich es gewesen sei, die meine Mutter tot im Swimmingpool entdeckte. Nach dem ersten Schock - 'Nein, das war Tante Pearl, ich schlief doch, ich habe keine Erinnerung daran' - begann sihc die Erinnerung langsam zu ver�ndern. Ich konnte mich sehen, ein d�nnes, dunkelhaariges M�dchen, das in den flimmernden blau-wei�en Pool blickt. Meine Mutter trieb, nur mit einem Nachthemd bekleidet, mit dem Gesicht nach unten im Wasser. 'Mutter? Mutter?' fragte ich mehrere Male, voller Angst immer lauter. Schlie�lich schrie ich. Ich erinnere mich an die Polizeiautos, deren Blaulichter und die Bahre mit dem sauberen, wei�en Tuch, das die Leiche bedeckte."

Loftus hatte das Gef�hl, da� diese Erinnerung immer schon in ihr war, da - sie aber bislang nicht an sie herankommen konnte, wil das Erlebnis so schrecklich war. Erst der Hinweis des Verwandten wies ihr den Weg zu der - wie sie nun �berzeugt war - versch�tteten Erinnerung. Nun hatte sie endlich eine Erkl�rung f�r ihre obsessive berufliche Besch�ftigung mit dem menschlichen Ged�chtnis, f�r ihre Arbeitssucht, f�r ihre extreme Sehnsucht nach Sicherheit und bedingungsloser Leibe. "Drei Tage lang," so Loftus, "weitete sich meine Erinnerung immer weiter aus und schwoll an."

Doch danach erhielt sie einen Anruf und erfuhr, da� der Verwandte sich geirrt h�tte und die urspr�ngliche Version der Geschichte doch richtig sei: Loftus' Mutter wurde nicht von ihr, sondern von ihrer Tante Pearl gefunden. Schlagartig fiel nun die neue Erinnerung an den Tod der Mutter in sich zusammen. Was blieb, so Loftus, war die tiefe Verunsicherung dar�ber, da� eine einzige Bemerkung eine derartige Suggestivkraft haben konnte.

aus: Nuber 1995, S. 119-121

Ein besonders eindrucksvolles Ged�chtnisexperiment wurde von Elizabeth Loftus und ihren Kollegen durchgef�hrt: das Ged�chtnisexperiment mit Chris Coan. Teil des Experiments war es, da� der 14j�hrige Chris von seinem Bruder Jim eine Geschichte aus seiner Kindheit erfuhr, die er bislang noch nicht kannte (und auch nicht kennen konnte, denn sie war von Loftus erfunden worden). Jim erz�hlte also seinem Bruder Chris, da� er im Alter von f�nf Jahren in einem Kaufhaus verlorengegangen war.

"Es war 1981 oder 1982. Ich erinnere mich, Chris war f�nf. Wir waren einkaufen im Einkaufszentrum. Wir gerieten in Panik, doch dann fanden wir Chris, der von einem gro�en, alten Mann durch das Einkaufszentrum gef�hrt wurde. (Ich glaube, er trug ein Flanellhemd.) Chris weinte und hielt die Hand des Mannes. Der Mann erkl�rte uns, da� er Chris ein paar Augenblicke zuvor gefunden habe, als dieser schrecklich weinend herumirrte, und da� er ihm helfen wollte, seine Eltern zu finden."

Chris sollte, nachdem ihm die Geschichte erz�hlt worden war, in den darauffolgenden f�nf Tagen alles aufschreiben, was ihm an Gedanken zu diesem Ereignis durch den Kopf ging und welche Erinnerungen er an diesen Tag im Einkaufszentrum hat.

Zun�chst konnte sich Chris - ganz richtig - �berhaupt nicht an diese Episode erinnern. Doch bereits am ersten Tag schrieb er folgende Notiz in sein Tagebuch:

"Ich erinnere mich ein klein wenig an den Mann. Ich erinnere mich, da� ich gedacht habe 'Wow! Der ist richtig cool!'" Am zweiten Tag stand zu lesen: "Ich war an diesem Tag so verzweifelt, ich dachte, ich w�rde meine Familie niemals wiedersehen. Ich wu�te, da� ich in Schwierigkeiten war." Die Eintragung am dritten Tag lautete: "Ich erinnere mich, da� Mutter mich ermahnte, so etwas nie wieder zu tun." Und am vierten Tag konnte sich Chris genau an des Flanellhemd erinnern, und am f�nften Tag schlie�lich notierte er: "Ich kann mich an die gesch�fte erinnern."

Einige Wochen sp�ter [...] konnte er sich schon sehr genau und detailreich an alles "erinnern": "ich wollte mich im Spielzeugladen umschauen ... und pl�tzlich war ich verlorengegangen. Ich sah mich um und dachte, 'Oh, nun bin ich in Schwierigkeiten'. Und dann dachte ich, ich w�rde meine Familie nie wiedersehen. Ich war wirklich verzweifelt. Und dann kam der alte Mann auf mich zu, ich glaube, er trug ein blaues Flanellhemd. Er hatte eine glatze, wenige graue Haare, und er trug eine Brille."

Als Chris erfuhr, da� dieses Ereignis niemals stattgefunden hatte, sondern da� er Versuchsperson in einem Ged�chtnisexperiment gewesen war, wollte er dies zun�chst nicht glauben. "Wirklich? Nun, nein ... Ich erinnere mich daran, verlorengegangen zu sein ... Ich erinnere mich wirklich ... Und dann habe ich geweint, und Mutter kam und sagte 'Wo warst du? Mach sowas nie wieder!"