In welch großem Ausmaß unsere Erinnerungen beeinflußbar sind, belegt eindrucksvoll eine "Erinnerung" des Entwicklungspsychologen Jean Piaget. Es geht dabei um eine Episode, als er zwei Jahre alt war. "Ich sehe die folgende Szene noch genau vor mir", erzählte er. "ich saß in meinem Kinderwagen, mein Kindermädchen schob mich auf den Champ elysees spazieren, als ein Mann versuchte, mich zu kidnappen. Ich wurde von den Gurten des Kinderwagens festgehalten, während das Kindermädchen sich mutig zwischen mich und den Kidnapper stellte. Sie zog sich einige Kratzer zu, ich kann sie verschwommen immer noch auf ihrem Gesicht sehen..." Jedenfalls konnte er das bis zu seinem 15. Lebensjahr; damals erhielten die Eltern einen Brief des ehemaligen Kindermädchens, indem sie zugab, die ganze Geschichte erfunden zu haben. Sie gab auch die Uhr zurück, die sie damals als Belohnung für ihr tapferes Eingreifen erhalten hatte. Daß die Erinnerung bis dahin so klar und ohne Zweifel war, erklärte sich Piaget damit, daß er diese Geschichte wohl so ofr gehört und sich mit Hilfe seiner kindlichen Phantasie die entsprechenden Bilder dazu gemacht hatte. (S. 76 f)
[...] Kann die Erinnerung an tatsächlich Geschehenes ebenfalls im Rückblick verfälscht werden?
Dies ist durchaus möglich, wie Elizabeth Loftus anhand ihrer [...] Erinnerung an den Tod ihrer Mutter beschreibt. Diese Erinnerung wurde mit dem zeitlichen Abstand nicht nur immer "bunter" und ausführlicher, sie erfuhr sogar 30 Jahre später ein völlig neue inhaltliche Wendung. Bis dahin war Loftus' letzte Erinerung an ihre Mutter, daß diese am Abend ihres Todes leise ins Zimmer ihrer Tochter kam, sie küßte und flüsterte: "Ich liebe Dich". 30 Jahre später, am 90. geburtstag ihres Onkels Joe, "informierte mich ein Verwandter darüber, daß ich es gewesen sei, die meine Mutter tot im Swimmingpool entdeckte. Nach dem ersten Schock - 'Nein, das war Tante Pearl, ich schlief doch, ich habe keine Erinnerung daran' - begann sihc die Erinnerung langsam zu verändern. Ich konnte mich sehen, ein dünnes, dunkelhaariges Mädchen, das in den flimmernden blau-weißen Pool blickt. Meine Mutter trieb, nur mit einem Nachthemd bekleidet, mit dem Gesicht nach unten im Wasser. 'Mutter? Mutter?' fragte ich mehrere Male, voller Angst immer lauter. Schließlich schrie ich. Ich erinnere mich an die Polizeiautos, deren Blaulichter und die Bahre mit dem sauberen, weißen Tuch, das die Leiche bedeckte."
Loftus hatte das Gefühl, daß diese Erinnerung immer schon in ihr war, da - sie aber bislang nicht an sie herankommen konnte, wil das Erlebnis so schrecklich war. Erst der Hinweis des Verwandten wies ihr den Weg zu der - wie sie nun überzeugt war - verschütteten Erinnerung. Nun hatte sie endlich eine Erklärung für ihre obsessive berufliche Beschäftigung mit dem menschlichen Gedächtnis, für ihre Arbeitssucht, für ihre extreme Sehnsucht nach Sicherheit und bedingungsloser Leibe. "Drei Tage lang," so Loftus, "weitete sich meine Erinnerung immer weiter aus und schwoll an."
Doch danach erhielt sie einen Anruf und erfuhr, daß der Verwandte sich geirrt hätte und die ursprüngliche Version der Geschichte doch richtig sei: Loftus' Mutter wurde nicht von ihr, sondern von ihrer Tante Pearl gefunden. Schlagartig fiel nun die neue Erinnerung an den Tod der Mutter in sich zusammen. Was blieb, so Loftus, war die tiefe Verunsicherung darüber, daß eine einzige Bemerkung eine derartige Suggestivkraft haben konnte.
Ein besonders eindrucksvolles Gedächtnisexperiment wurde von Elizabeth Loftus und ihren Kollegen durchgeführt: das Gedächtnisexperiment mit Chris Coan. Teil des Experiments war es, daß der 14jährige Chris von seinem Bruder Jim eine Geschichte aus seiner Kindheit erfuhr, die er bislang noch nicht kannte (und auch nicht kennen konnte, denn sie war von Loftus erfunden worden). Jim erzählte also seinem Bruder Chris, daß er im Alter von fünf Jahren in einem Kaufhaus verlorengegangen war.
"Es war 1981 oder 1982. Ich erinnere mich, Chris war fünf. Wir waren einkaufen im Einkaufszentrum. Wir gerieten in Panik, doch dann fanden wir Chris, der von einem großen, alten Mann durch das Einkaufszentrum geführt wurde. (Ich glaube, er trug ein Flanellhemd.) Chris weinte und hielt die Hand des Mannes. Der Mann erklärte uns, daß er Chris ein paar Augenblicke zuvor gefunden habe, als dieser schrecklich weinend herumirrte, und daß er ihm helfen wollte, seine Eltern zu finden."
Chris sollte, nachdem ihm die Geschichte erzählt worden war, in den darauffolgenden fünf Tagen alles aufschreiben, was ihm an Gedanken zu diesem Ereignis durch den Kopf ging und welche Erinnerungen er an diesen Tag im Einkaufszentrum hat.
Zunächst konnte sich Chris - ganz richtig - überhaupt nicht an diese Episode erinnern. Doch bereits am ersten Tag schrieb er folgende Notiz in sein Tagebuch:
"Ich erinnere mich ein klein wenig an den Mann. Ich erinnere mich, daß ich gedacht habe 'Wow! Der ist richtig cool!'" Am zweiten Tag stand zu lesen: "Ich war an diesem Tag so verzweifelt, ich dachte, ich würde meine Familie niemals wiedersehen. Ich wußte, daß ich in Schwierigkeiten war." Die Eintragung am dritten Tag lautete: "Ich erinnere mich, daß Mutter mich ermahnte, so etwas nie wieder zu tun." Und am vierten Tag konnte sich Chris genau an des Flanellhemd erinnern, und am fünften Tag schließlich notierte er: "Ich kann mich an die geschäfte erinnern."
Einige Wochen später [...] konnte er sich schon sehr genau und detailreich an alles "erinnern": "ich wollte mich im Spielzeugladen umschauen ... und plötzlich war ich verlorengegangen. Ich sah mich um und dachte, 'Oh, nun bin ich in Schwierigkeiten'. Und dann dachte ich, ich würde meine Familie nie wiedersehen. Ich war wirklich verzweifelt. Und dann kam der alte Mann auf mich zu, ich glaube, er trug ein blaues Flanellhemd. Er hatte eine glatze, wenige graue Haare, und er trug eine Brille."
Als Chris erfuhr, daß dieses Ereignis niemals stattgefunden hatte, sondern daß er Versuchsperson in einem Gedächtnisexperiment gewesen war, wollte er dies zunächst nicht glauben. "Wirklich? Nun, nein ... Ich erinnere mich daran, verlorengegangen zu sein ... Ich erinnere mich wirklich ... Und dann habe ich geweint, und Mutter kam und sagte 'Wo warst du? Mach sowas nie wieder!"