[p.42] Der Gedanke, da� Kindheit nicht die enorme Bedeutung haben soll, die man ihr in den letzten Jahrzehnten zugeschrieben hat, d�rfte vielen Menschen wahrscheinlich so fremd sein, da� sie sich gar nicht erst daf�r interessieren, wie er begr�ndet wird.
Wer jahrelang auf der Couch eines Psychoanalytikers zugebracht hat oder in anderen Therapien unter seelischen Schmerzen und gro�em finanziellen Aufwand seine Vergangenheit erforscht hat, wird diesen Gedanken zwangsl�ufig abwehren m�ssen. W�rde er ihn an sich heranlassen, dann k�me er nicht umhin, dar�ber nachzudenken, ob all seine Bem�hungen m�glicherweise umsonst gewesen sind. [...]
[p.43] Abwehrend reagieren nat�rlich auch all jene Seelenexperten, die ihr therapeutisches Vorgehen ausschliesslich durch die Annahme legitimieren, da� die psychischen Wunden der Kindheit eine Mitgift sind, die das Leben des Erwachsenen zerst�ren kann. [...]
Betroffene und Experten haben zahlreiche Forschungsergebnisse auf ihrer Seite, die in den letzten Jahrzehnten die These von der Kindheit, die Schicksal sein soll, immer wieder [p.44] zu best�tigen scheinen. Die Mehrzahl dieser Forschungsarbeiten bezieht sich - direkt oder indirekt - auf die psychoanalytische Trauma-Theorie.
[...]
[Amendt]
[...]
[p.62]
Weil es inzwischen zu einer wahren Erinnerungsepidemie in diesen Trauma-Therapien kommt, werfen Kritiker den Therapeuten und Therapeutinnen vor, sie w�rden ihren Klientinnen den sexuellen Mi�brauch einreden, ein Vorwurf, den diese nat�rlich emp�rt von sich weisen. Im Verbandsblatt [p.63] der Amerikanischen Psychologenvereinigung ereifert sich ein Therapeut, die Kritiker w�rden "kompetente Kollegen als Clowns hinstellen und die ganze Profession in Mi�kredit bringen." Andere sprechen vom "Gegenschlag", zu dem angeblich gegen Trauma-Therapeuten und deren Klienten ausgeholt wird. Ziel dieses "Backlash" sei es, Schweigen �ber die Realit�t sexuellen Kindesmi�brauchs zu erzwingen. Die Verteidiger der Trauma-Theorie Freuds bef�rchten, da� das Leiden der Menschen, die als Kind sexuell mi�braucht wurden, verharmlost werden k�nnte.
[...]
[...]
Alle Psychologen, alle Therapeuten, alle selbsternannten Psychoexperten, die ohen den geringsten Zweifel die These "Kindheit ist Schicksal" vertreten, geben vor, dies nur zum Wohle der Betroffenen zu tun. [...] sie sorgen daf�r, da� wir in endlos langen Therapien die Schmerzen der Kindheit wiedererleben und unsere Wunden pflegen - manchmal jahrelang, manchmal jahrzehntelang und manchmal sogar ein Leben lang. Wenn wir bereit dazu sind, k�nnen wir jederzeit ausreichend Material dazu finden, da� wir in unserer Kindheit besch�digt, mi�braucht, vernachl�ssigt wurden, kurz: da� wir Opfer sind.
Der Schwerpunkt der "Aufkl�rung" liegt immer nur auf den m�glichen negativen Einfl�ssen und sch�digenden Faktoren. Die positiven Entwicklungen, die m�glicherweise selbst unter schwierigen Bedingungen m�glich sind, sind dagegen kaum Thema. Das liegt vor allem daran, wie der amerikanische Psychotherapeut Bernie Zilbergeld meint, da� viele Psychoexperten nur gelernt h�tten, das Negative zu betrachten, aber auch daran, da� sie durchaus ein Interesse haben, nur die negativen Seiten zu sehen. "Je mehr Pathologie, desto gr��er das Bed�rfnis nach mehr Forschungen, mehr Therapeuten und mehr Therapie."
[...]
[p.86] Der sogenannte "Wiederholungszwang", der nach Ansicht der Trauma-Theoretiker immer dann droht, wenn fr�here Erfahrungen nicht therapeutisch aufgearbeitet werden, mu� nicht unbedingt psychologisch begr�ndet sein, er kann auch biologische Ursachen haben. Wenn ein Sohn von seinem Vater geschlagen wird und sp�ter selbst seinen eigenen Sohn auch schl�gt, dann hat der Vater seinem Sohn m�glicherweise die Neigung zur Aggression vererbt. Wenn das Kind einer depressiven Mutter sp�ter selbst depreessiv wird, dann kann das eine Folge der niederdr�ckenden Kindheitserfahrungen sein; ebenso denkbar aber ist, da� die Mutter ihre Anf�lligkeit f�r die Depression an das Kind verebt hat. Wenn das Kind einer schizophrenen Mutter selbst an Schizophrenie erkrankt, dass ist es wahrscheinlicher, da� es diese Krankheit von der Mutter geerbt hat, als da� sie sich durch Erziehungserfahrungen entwickelt hat.
[...]
Biologische Erkl�rungss�tze wie diese gelten allerdings als nicht "political correct". Sie rufen in der Regel bei Psychologen und Sozialwissenschaftlern - und erst recht bei Trauma-Therapeuten - heftige Abwehr hervor. Die biologische Forschung erscheint ihnen obsolet, sie sehen darin einen konservativen "Backlash", einen Gegenschlag, der psychische Probleme wieder dem medizinischen Modell zuordnet und den Einfl�ssen der Umwelt ihre Kraft abspricht. Vor allem f�r die Verfechter der Trauma-Theorie ist die Suche nach den "Schizophrenie-Gen" nichts anderes als der Versuch, die Eltern von Schuld freizusprechen.
[p.88] ... es w�re falsch, die Gene ausschlie�lich f�r bestimmte Entwicklungen verantwortlich machen. Damit w�rde nur eine pauschale Erkl�rung ("Die Kindheit ist schuld") durch eine andere ("Die Gene sind schuld") ersetzt.
[...] Eine psychische Krankheit entsteht also aus einer Wechselwirkung zwischen genetischer Veranlagung und spezifischen Erfahrungen.
Trauma-Theoretiker wollen von diesem Wechselspiel allerdings nicht viel wissen, sondern betonen einseitig die Umwelteinfl�sse.
Eine Warnung, die sicherlich vielen nicht gefallen wird. Sie wollen sich ihren Glauben an die Macht der Kindheit nicht nehmen lassen - und das ist sogar verst�ndlich. Wird die Bedeutung der fr�hen Kindheit geschm�lert, dann folgt daraus die Konsequenz, da� auch die Versprechungen der Trauma-Therapeuten nicht l�nger haltbar sind: Die Zauberformel - erinnern, wiederholen, durcharbeiten -, an die so viele in der Hoffnung auf Heilung geglaubt haben, ist dann m�glicherweise nur noch Hokuspokus. Akzeptieren wir die sehr viel bescheidenere Rolle der Kindheit, dann bedeutet das unter anderem, da� wir uns mit bestimmten Dingen abfinden m�ssen:
[p.108]
Die hier angef�hrten Studien belegen nicht, da� alle unsere Erinnerungen falsch sind oder von anderen manipuliert wurden. Allerdings machen sie uns darauf aufmerksam, da� die M�glichkeit der Verf�lschung und Manipulation besteht und im Bereich des Wahrscheinlichen liegt. Beeinflussungen, Verzerrungen, Suggestionen sind durchaus m�glich; wir k�nnen im Grunde niemals sicher sien, ob das, an was wir uns erinnern, auch wirklich den Tatsachen entspricht.
[p.123] Heute, �ber ein Jahrzehnt sp�ter, liegen noch immer keine �berzeugenden empirischen Belege f�r die Trauma-Theorie vor. Daf�r aber ist es der modernen Ged�chtnisforschung gelungen, die Zweifel an der Richtigkeit dieser Theorie zu st�rken. Funktionierte die Verdr�ngung wirklich so, wie es von ihren zahlreichen Anh�ngern behauptet wird, dann w�rde sie allem widersprechen, was inzwischen �ber die Arbeitsweise unseres Ged�chtnisses bekannt ist.