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Nuber U.

Der Mythos vom fr�hen Trauma

Fischer, Frankfurt am Main (1995)

ISBN 3-10-051922-1

[p.42] Der Gedanke, da� Kindheit nicht die enorme Bedeutung haben soll, die man ihr in den letzten Jahrzehnten zugeschrieben hat, d�rfte vielen Menschen wahrscheinlich so fremd sein, da� sie sich gar nicht erst daf�r interessieren, wie er begr�ndet wird.

Wer jahrelang auf der Couch eines Psychoanalytikers zugebracht hat oder in anderen Therapien unter seelischen Schmerzen und gro�em finanziellen Aufwand seine Vergangenheit erforscht hat, wird diesen Gedanken zwangsl�ufig abwehren m�ssen. W�rde er ihn an sich heranlassen, dann k�me er nicht umhin, dar�ber nachzudenken, ob all seine Bem�hungen m�glicherweise umsonst gewesen sind. [...]

[p.43] Abwehrend reagieren nat�rlich auch all jene Seelenexperten, die ihr therapeutisches Vorgehen ausschliesslich durch die Annahme legitimieren, da� die psychischen Wunden der Kindheit eine Mitgift sind, die das Leben des Erwachsenen zerst�ren kann. [...]

Betroffene und Experten haben zahlreiche Forschungsergebnisse auf ihrer Seite, die in den letzten Jahrzehnten die These von der Kindheit, die Schicksal sein soll, immer wieder [p.44] zu best�tigen scheinen. Die Mehrzahl dieser Forschungsarbeiten bezieht sich - direkt oder indirekt - auf die psychoanalytische Trauma-Theorie.

Die psychoanalytische Trauma-Theorie und ihre Wirkung

[...]

[Amendt]

[...]

[p.62]

Die Tyrannei der Trauma-Theorie

Die Korrektur, die Sigmund Freud an seiner fr�hen Trauma-Theorie vornahm, schlug sp�te Wellen. Mit der Entdeckung, da� sexueller Kindesmi�brauch in den westlichen Gesellschaften ein lange geh�tetes Geheimnis was, da� sehr viele Kinder [...] Opfer sexueller �bergriffe durch V�ter, Onkel, Br�der werden, besannen sich die Psychoanalyse-Kritiker auf diese, wie sie es nennen, Abkehr Freuds von der Wahrheit. [...] Freuds Zweifel, ob die Berichte seiner Patienten �ber sexuellen Mi�brauch der Wahrheit oder der Phantasie entspringen sind f�r die heutigen Trauma-Therapeuten nicht mehr relevant. Wie Freud damals von den Sympromen der Hysterie, so schlie�en auch sie von bestimmten Symptomen auf sexuellen Mi�brauch und leiten ihre Klienten dazu an, ihre Vergangenheit nach entsprechenden Vorkommnissen zu erforschen. Dabei ist es vollkommen unwichtig, ob sich die Betroffenen an sexuelle �bergriffe erinnern k�nnen oder ob sie diese Erinnerungen erst im Laufe der Therapie zur�ckgewinnen. Der sexuelle Mi�brauch, so die feste �berzeugung der Trauma-Therapeuten, hat auf jeden Fall real stattgefunden.

Weil es inzwischen zu einer wahren Erinnerungsepidemie in diesen Trauma-Therapien kommt, werfen Kritiker den Therapeuten und Therapeutinnen vor, sie w�rden ihren Klientinnen den sexuellen Mi�brauch einreden, ein Vorwurf, den diese nat�rlich emp�rt von sich weisen. Im Verbandsblatt [p.63] der Amerikanischen Psychologenvereinigung ereifert sich ein Therapeut, die Kritiker w�rden "kompetente Kollegen als Clowns hinstellen und die ganze Profession in Mi�kredit bringen." Andere sprechen vom "Gegenschlag", zu dem angeblich gegen Trauma-Therapeuten und deren Klienten ausgeholt wird. Ziel dieses "Backlash" sei es, Schweigen �ber die Realit�t sexuellen Kindesmi�brauchs zu erzwingen. Die Verteidiger der Trauma-Theorie Freuds bef�rchten, da� das Leiden der Menschen, die als Kind sexuell mi�braucht wurden, verharmlost werden k�nnte.

[...]

[Powell & Boer 1994]

[...]

[Dawes 1994]

III. Das Neue Bild Der Kindheit

Fr�he Erfahrungen m�ssen nicht Schicksal sein

Alle Psychologen, alle Therapeuten, alle selbsternannten Psychoexperten, die ohen den geringsten Zweifel die These "Kindheit ist Schicksal" vertreten, geben vor, dies nur zum Wohle der Betroffenen zu tun. [...] sie sorgen daf�r, da� wir in endlos langen Therapien die Schmerzen der Kindheit wiedererleben und unsere Wunden pflegen - manchmal jahrelang, manchmal jahrzehntelang und manchmal sogar ein Leben lang. Wenn wir bereit dazu sind, k�nnen wir jederzeit ausreichend Material dazu finden, da� wir in unserer Kindheit besch�digt, mi�braucht, vernachl�ssigt wurden, kurz: da� wir Opfer sind.

Der Schwerpunkt der "Aufkl�rung" liegt immer nur auf den m�glichen negativen Einfl�ssen und sch�digenden Faktoren. Die positiven Entwicklungen, die m�glicherweise selbst unter schwierigen Bedingungen m�glich sind, sind dagegen kaum Thema. Das liegt vor allem daran, wie der amerikanische Psychotherapeut Bernie Zilbergeld meint, da� viele Psychoexperten nur gelernt h�tten, das Negative zu betrachten, aber auch daran, da� sie durchaus ein Interesse haben, nur die negativen Seiten zu sehen. "Je mehr Pathologie, desto gr��er das Bed�rfnis nach mehr Forschungen, mehr Therapeuten und mehr Therapie."

[...]

[p.86] Der sogenannte "Wiederholungszwang", der nach Ansicht der Trauma-Theoretiker immer dann droht, wenn fr�here Erfahrungen nicht therapeutisch aufgearbeitet werden, mu� nicht unbedingt psychologisch begr�ndet sein, er kann auch biologische Ursachen haben. Wenn ein Sohn von seinem Vater geschlagen wird und sp�ter selbst seinen eigenen Sohn auch schl�gt, dann hat der Vater seinem Sohn m�glicherweise die Neigung zur Aggression vererbt. Wenn das Kind einer depressiven Mutter sp�ter selbst depreessiv wird, dann kann das eine Folge der niederdr�ckenden Kindheitserfahrungen sein; ebenso denkbar aber ist, da� die Mutter ihre Anf�lligkeit f�r die Depression an das Kind verebt hat. Wenn das Kind einer schizophrenen Mutter selbst an Schizophrenie erkrankt, dass ist es wahrscheinlicher, da� es diese Krankheit von der Mutter geerbt hat, als da� sie sich durch Erziehungserfahrungen entwickelt hat.

[...]

Biologische Erkl�rungss�tze wie diese gelten allerdings als nicht "political correct". Sie rufen in der Regel bei Psychologen und Sozialwissenschaftlern - und erst recht bei Trauma-Therapeuten - heftige Abwehr hervor. Die biologische Forschung erscheint ihnen obsolet, sie sehen darin einen konservativen "Backlash", einen Gegenschlag, der psychische Probleme wieder dem medizinischen Modell zuordnet und den Einfl�ssen der Umwelt ihre Kraft abspricht. Vor allem f�r die Verfechter der Trauma-Theorie ist die Suche nach den "Schizophrenie-Gen" nichts anderes als der Versuch, die Eltern von Schuld freizusprechen.

[Holsboer 1990]

[p.88] ... es w�re falsch, die Gene ausschlie�lich f�r bestimmte Entwicklungen verantwortlich machen. Damit w�rde nur eine pauschale Erkl�rung ("Die Kindheit ist schuld") durch eine andere ("Die Gene sind schuld") ersetzt.

[...] Eine psychische Krankheit entsteht also aus einer Wechselwirkung zwischen genetischer Veranlagung und spezifischen Erfahrungen.

Trauma-Theoretiker wollen von diesem Wechselspiel allerdings nicht viel wissen, sondern betonen einseitig die Umwelteinfl�sse.

[Seligman 1994]

[Ellis 1994]

[Seligman 1994]

Eine Warnung, die sicherlich vielen nicht gefallen wird. Sie wollen sich ihren Glauben an die Macht der Kindheit nicht nehmen lassen - und das ist sogar verst�ndlich. Wird die Bedeutung der fr�hen Kindheit geschm�lert, dann folgt daraus die Konsequenz, da� auch die Versprechungen der Trauma-Therapeuten nicht l�nger haltbar sind: Die Zauberformel - erinnern, wiederholen, durcharbeiten -, an die so viele in der Hoffnung auf Heilung geglaubt haben, ist dann m�glicherweise nur noch Hokuspokus. Akzeptieren wir die sehr viel bescheidenere Rolle der Kindheit, dann bedeutet das unter anderem, da� wir uns mit bestimmten Dingen abfinden m�ssen:

[p.108]

Das Ph�nomen der "falschen Erinnerungen": Warum dem Ged�chtnis nicht zu trauen ist

[Loftus & Ketcham 1994]

[Neisser & Harsch 1992]

Die hier angef�hrten Studien belegen nicht, da� alle unsere Erinnerungen falsch sind oder von anderen manipuliert wurden. Allerdings machen sie uns darauf aufmerksam, da� die M�glichkeit der Verf�lschung und Manipulation besteht und im Bereich des Wahrscheinlichen liegt. Beeinflussungen, Verzerrungen, Suggestionen sind durchaus m�glich; wir k�nnen im Grunde niemals sicher sien, ob das, an was wir uns erinnern, auch wirklich den Tatsachen entspricht.

[p.123] Heute, �ber ein Jahrzehnt sp�ter, liegen noch immer keine �berzeugenden empirischen Belege f�r die Trauma-Theorie vor. Daf�r aber ist es der modernen Ged�chtnisforschung gelungen, die Zweifel an der Richtigkeit dieser Theorie zu st�rken. Funktionierte die Verdr�ngung wirklich so, wie es von ihren zahlreichen Anh�ngern behauptet wird, dann w�rde sie allem widersprechen, was inzwischen �ber die Arbeitsweise unseres Ged�chtnisses bekannt ist.