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Baurmann, Michael C.

Sexualität, Gewalt und psychische Folgen. Eine Längsschnittuntersuchung bei Opfern sexualler Gewalt und sexuellen Normverletzungen anhand von angezeigten Sexualkontakten

BKA Forschungsreihe Nr. 15, Bundeskriminalamt, Wiesbaden (1983)

Auszüge

S. 515-522

[S. 515]

Zusammenfassung

I. Vorbemerkungen

Wenn über Sexualverhalten gesprochen wird, welches von der gesellschaftlichen Norm abweicht, dann kommen leicht unbewußte Ängste und schienrationale Argumente in die Debatte (S. 47 ff). Seit Jahrzehnten beklagen Strafrechtler immer wieder die Irrationalität solcher Diskussionen (S. 52 f). Vom Sexualverbrecher, seiner Tat und dem Opfer gibt es kein differenziertes Bild (S. 51), was u.a. damit zusammenhängt, daß die Sexualität - trotz der sogenannten sexuellen Revolution - weitgehend immer noch tabuisiert wird, daß eine Unbeholfenheit besteht, sich über Sexualität zu unterhalten (S. 47 f), und daß Problemstellungen im Sexualbereich somit einer sachlichen Diskussion entzogen bleiben.

Die diffusen Meinungen und Einstellungen, die Vorurteile, der Informationsmangel bezüglich der abweichenden Sexualität wirken als Ganzes oder ausschnittsweise in den Alltag hinein,

Wie der Ernstfall tatsächlich aussieht, wo die echten Gefahren für das Sexualopfer lauern, sollte in einer großangelegten Längsschnittuntersuchung empirisch erforscht werden.

II. Ziel der Längsschnittuntersuchung

Die hauptsächlichsten Fragstellungen der Untersuchung waren:

  1. Welche Bevölkerungsgruppen sind besonders gefährdet, Sexualopfer zu werden?
  2. Was ist eigentlich vorgefallen, wenn ein Sexualdelikt bei der Polizei angezeigt wird? Welche Rolle spielt Gewaltanwendung beim Sexualkontakt?
  3. Gibt es das Sexualdelikt? Oder gibt es verschiedene Konstellationen?
  4. Wie kam es zur sexuellen Handlung? Wie hat sich der Beschuldigte verhalten? Wie hat sich das Opfer verhalten? Wo fand der Sexualkontakt statt?

    [S. 516]

  5. Wie sieht das Opfer den angezeigten Sexualkontakt mehrere Jahre nach der Anzeige?
  6. Wie war die Situation des Opfers? Wie hat die Umwelt reagiert? Wie haben sich die Vertreten von Behörden verhalten?
  7. Wieviele der Opfer fühlen sich geschädigt? In welchen Fällen treten psychische Schäden auf?
  8. Wodurch werden Schäden, sofern sie auftreten, nach Meinung der Opfer angerichtet? Sind es eher sogenannte primäre Schäden, die durch die kriminelle Handlung selbst ausgelöst werden oder eher sogenannt sekundäre, die erst später durch negative Einflüsse der Umwelt beim Opfer entstehen?

III. Methodik der Untersuchung

Ausgangspunkt der viktimologischen Untersuchung war eine vierjährige Fragebogenaktion (1969-1972) bei nahezu allen Sexualopfern, die im Bundesland Niedersachsen bei der Polizei bekannt wurden (S. 127 f). Opfer waren bei dieser Untersuchung also Personen, die selbst deklariert hatten, Opfer geworden zu sein oder Personen, die von anderen als Opfer deklariert worden waren. (Beide werden als "deklarierte Opfer" (S. 25 ff) bezeichnet.) Die weiblichen Sexualopfer waren bis zu 20 Jahren, die männlichen bis zu 14 Jahre alt. Damit wurde der zahlenmäßig bedeutsamste Teil der deklarierten Sexualopfer befragt. Die Aussagen dieser 8058 deklarierten Sexualopfer aus der Totalerhebung wurden viktimologisch ausgewertet und sind von überregionaler Bedeutung. Schlüsse aus der Untersuchung sind nicht auf Niedersachsen zu beschränken.

In einem zweiten Schritt wurden in einer "Panel Study" 112 zufällig ausgewählte Sexualopfer aus dem Total gebeten, an einer Nachuntersuchung teilzunehmen (S 128 ff). Diese Nachuntersuchung fand im Einzelfall sechs bis zehn Jahre nach der Opfer-Deklaration (Anzeige) statt, und zwar in den Jahren 1979 und 1980. Die Nachuntersuchung bestand aus einem weitgehend standarisierten Tiefeninterview, in das bewährte psychodiagnostische Testverfahren und viktimologische Fragestellungen integriert waren. Diese Gespräche wurden im Haus des deklarierten Sexualopfers geführt. Die Interviewer waren weibliche und männliche Psychologen.

Schließlich wurden in einem dritten Schritt die Gerichtsakten von 131 Sexualdelikten aus einer anderen Region untersucht (S. 132 ff). Bei diesen Fällen war es also nicht nur zu einer Anzeige bei der Polizei, sondern auch zu einer Verurteilung vor Gericht gekommen. Bei dieser viktimologisch orientierten Aktenanalyse wurden nur Fälle herangezogen, bei denen ein ausführliches psychologisches Glaubwürdigkeitsgutachten vorlag. Diese Fälle waren zu einem vergleichbaren Zeitpunkt geschehen wie die Fälle des Totals. Der Zweck dieses dritten Untersuchungsschritts war der Vergleich zwischen lediglich angezeigten Sexualkontakten und den verurteilten. Fast alle bisher bekannten Untersuchungen hatten sich leider ausschließlich mit verurteilten Sexualkontakten beschäftigt.

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IV. Ergebnisse

Die Sexualopfer waren zu 80-90% Mädchen und Frauen. Die hauptsächlich betroffenen Altersgruppen waren je nach Deliktart sehr unterschiedlich. Beim sexuellen Mißbrauch von Kindern sind annähernd zwei Drittel zwischen 7 und 13 Jahre alt. Im Bereich Vergewaltigung sind vorwiegend die jungen Frauen im Alter zwischen 14 und 20 Jahren gefährdet. Das Alter der Frauen, die mit einem Exhibitionisten (Gliedvorzeiger) konfrontiert werden, streut weiter. Dabie sind die jüngeren Altersgruppen etwas stärker vertreten.

Als Beschuldigte treten fast ausschließlich Männer, und zwar vorwiegend im Alter von 25 bis 35 Jahren, auf (S. 234 ff). Die immer noch weit verbreitete Vorstellung von einer Mehrzahl älterer und greiser Sittlichkeitsverbrecher ist unzutreffend.

Der Altersunterschied zwischen Opfer und Beschuldigtem beträgt im Durchschnitt 25 Jahre, beim erzwungenen Sexualkontakt allerdings nur noch sieben Jahre (S. 237 ff).

Die Sexualopfer sind also vorwiegend junge Frauen und Mädchen, die von Männern "in den besten Jahren" bedroht werden. Als zahlenmäßig bedeutendste Tatbestände des Strafgesetzbuchs zeigten sich (S. 218 ff):

Exhibitionismus (Par. 183 StGB)                            23,9%
Sexueller Mißbrauch von Kindern (Par. 176 StGB)            35,5%
Sexuelle Nötigung (Par. 178 StGB) und Vergewaltigung
 (Par. 177 StGB)                                           22,2%
sonstige                                                   18,4%

Unter den "sonstigen" befanden sich in dieser Untersuchung auch sexueller Mißbrauch von Schutzbefohlenen (Par. 174 StGB) und Beischlaf zwischen Verwandten (Par. 173 StGB) mit zusammen etwa 8%. Wenn man bei Inzestopfern Schäden feststellt, dann rühren diese manchmal nicht asuschließlich vom Sexualdelikt her, sondern sie sind in manchen Fällen die Folge schwerer algemeiner Störungen in der Familie. Die Inzesthandlung ist dabei ein weiteres Symptom dieser Störungen. Als extrem kleine Gruppe gilt auch die angezeigte Verführung (Par. 182 StGB). Unter diesem Paragraphen werden im Bundesgebiet jährlich nur etwa 10-15 Täter verurteilt. Bei den letztgenannten Deliktarten dürfte die Dunkelziffer (S. 90 ff) besonders groß sein.

Gleichgeschlechtliche Kontakte spielten statistisch und kriminologisch keine wesentliche Rolle bei der Untersuchung (S. 215 ff). Zum einen machten sie nur 10-15% der Fälle aus und zum anderen waren die beschriebenen sexuellen Handlungen "harmloser", fast ausschließlich ohen Gewaltanwendung durch den Beschuldigten (S. 287 ff) und es fühlte sich deshalb auch keines der männlichen Opfer geschädigt. In diesen Fällen konnte auch kein Schaden mit Hilfe der Testverfahren gemessen werden.

Die Exhibitionisten sind für die Frauen und Kinder in fast allen Fällen fremde Männer (S. 261 ff). Bei den anderen angezeigten Sexualkontakten tritt jedoch eher ein vorher bekannter oder gar verwandter Sexualtäter auf. Das bedeutet, daß die Warnung vor dem fremden Sexualverbrecher präventiv unwirksam und sexualpädagogisch höchst [S. 518] bedenklich ist, denn ein Gefühl der Bedrohung durch fremde Menschen wird vermittelt, während beispielsweise die Vergewaltigungen eher durch Bekannte aus dem sozialen Nahraum stattfinden. Mit zunehmendem Bekanntschaftsgrad zwischen Opfer und Täter nimmt die Intensität des Sexualkontakts, häufig auch der psychische Schaden beim Sexualopfer zu.

Wenn es überhaupt zur Anzeige kommt, dann werden gewalttätige Sexualtäter und Exhibitionisten von den Opfern oder ihren Angehörigen schneller angezeigt. Bei den Vergewaltigungsopfern drückt sich damit meist Empörung, Angst, Wut und Leid des Opfers aus. Demgegenüber ist es beim Exhibitionismus mehr die Empörung der Angehörigen des Opfers über das Sexualverhalten dieses fremden Mannes. Weil der Beschuldigte ein fremder ist, bestehen auch weniger Skrupel, ihn anzuzeigen.

Ganz anders ist die Lage im Bereich des Par. 176 StGB (Sexueller Mißbrauch von Kindern) (S. 401, S. 432 ff). Teilweise werden die Sexualkontakte von den Kindern als nicht so wesentlich betrachtet, manchmal sogar verschwiegen, so daß das Delikt oftmals eher zufällig bekannt wird. Selbst bei schwerwiegenden Delikten, in diesem Bereich schrecken die Eltern öfters vor einer Anzeige zurück, weil der Beschuldigte oftmals ein Bekannter ist (zum Dunkelfeld - S. 98 ff). In beiden Fällen kann es - aus unterschiedlichen Gründen - leicht zu sekundären Schädigungen beim Opfer kommen, d.h. daß das Kind zusätzlich oder erst durch das Verhalten der Umwelt geschädigt wird (S. 461 ff), wobei die sekundären Schädigungen nicht selten gravierender sind als die primären.

Insgesamterklärten 51,8% der Sexualopfer, daß sie sich in irgendeiner Weise in Zusammenhang mit dem angezeigten Sexualkontakt, also primär oder sekundär, geschädigt fühlen oder fühlten (S. 409 ff). Die empfundene Schädigung bei den geschädigten Sexualopfern dauerte im Durchschnitt 4 Jahre und 8 Monate an (S. 460 ff). Neben diesen 51,8% geschädigten Sexualopfern - davon zwei Drittel mit erheblichen psychischen Folgen - gibt es eine große Gruppe von 48,2% der Opfer, von denen keine Schädigung bekannt wurde. Von vielen Fachleuten wurde bisher angenommen, es gäbe kaum Sexualopfer ohne Schäden. Hier muß sicherlich einiges neu überdacht werden. Sekundäre Schäden können nach exhibitionistischen und anderen gewaltlosen Sexualkontakten besonders leicht auftreten, wenn das Kind aus einer Familie kommt mit besonders engen sexuellen Einstellungen, (S. 454 ff), auseiner Familie, in der viel Angst gemacht wurde vor dem "Sittenstrolch" oder aus einer Familie, wo aus allgemeiner Hilflosigkeit und Angst dramatisierend mit der Viktimisierung umgegangen wird (S. 438 ff). Als weitere Quelle sekundärer Schädigungen können sich die Strafverfolgunsbehörden und auch die Polizei leider nicht ausnehmen (S. 561 ff). Es ist unter dem Gesichtspunkt des Schutzes des Verbrechensopfers und der Aufklärungsquote bei schweren Sexualdelikten unerträglich, wenn einige Opfer Schäden durch die Strafverfolgung erleiden.

Bezogen auf die angezeigten Sexualkontakte stellte sich heraus, daß von den Sexualopfern als hauptsächliche Ursache für ihre Schäden (S. 461 ff) zur Hälfte die sexuelle Handlung selbst, zu einem Drittel das Verhalten des Beschuldigten und zu je etwa einem [S. 519] Zehntel das Verhalten von Verwandten/Bekannten sowie der Polizei gesehen wurde. Damit ist die Polizei zwar seltener als Hauptursache für psychische Schäden bei Sexualopfern verantwortlich als von mancher Seite her angenommen wurde, aber selbst wenige Fälle sollten hier schon nachdenklich stimmen und zu Verbesserungen bei der polizeilichen Arbeit führen. Bei den verurteilten Fällen konnten die Sexualopfer nicht mehr diagnostisch nachuntersucht werden. Es wird in der Literatur jedoch meist angenommen, daß die Gerichtsverhandlungen aus mehreren Gründen traumatisierende Folgen auf das Sexualopfer haben.

Neben der hauptsächlichen Ursache für den primären oder sekundären Schaden beim deklarierten Sexualopfer, wurden bei der vorliegenden Längsschnittuntersuchung weiterhin die Auswirkungen der Gespräche, die das Opfer mit Personen aus seiner Umwelt führte, erforscht (S. 483 ff). Die Gespräche mit Freundin, Freund, Geschwister, Lehrer, Psychologen, dem eigenen Rechtsanwalt, dem Sachverständigen und den Interviewern aus dieser Untersuchung wurden eher angenehmer bzw. hilfreich empfunden. Die Gespräche mit Mitschülern und Eltern hingegen wurden im Schnitt als neutral eingestuft. Bei näherer Analyse zeigte sich jedoch, daß sich ein Teil der Eltern schädigend, ein anderer Teil dagegen helfend verhalten hatte. Den Eltern kommt in solchen Situationen eine wichtige Rolle zu, weil sie als primäre Bezugspersonen emotional, zeitlich und von den Moralvorstellungen her dem Sexualopfer besonders nahe stehen und somit ganz wesentlich dazu beitragen, ob das Kind, die junge Frau den Vorfall mit oder ohne Langzeitschaden verarbeitet. Die Gespräche mit Ärzten und Beamten von Jugendamt, Polizei und Gericht, sowie dem Anwalt des Beschuldigten wurden eher negativ, und zwar meist leicht bis sehr schädigend empfunden. Dabei muß besonders berücksichtigt werden, daß es bei einem Großteil der angezeigten Sexualkontakte gar nicht erst zu einer Gerichtsverhandlung gekommen war. Die Situation des Opfers vor dem Gericht und die Auswirkungen der Verhandlung auf das Opfer bedürfen einer zusätzlichen Analyse.

Die Gespräche mit der Polizei (z.B. bei der Anzeigenaufnahme) erlebten die Sexualopfer durchschnittlich eher negativ, und zwar zwischen "hat keine Wirkung auf mich gehabt" und "war mir unangenehm, hat mir aber nicht geschadet". Damit schneidet die Polizei zwar beser ab, als zunächst befürchtet, aber für das Opfer ist diese Situation dennoch verbesserungsbedürftig. Dieses Problem wird auch in fachkundigen Polizeikreisen zunehmend bewußt, nicht zuletzt durch die Öffentlichkeitsarbeit von Gruppierungen, die sich speziell für Opfer einsetzen und deutlich auf vorhandene Mißstände hinweisen (Notrufe für vergewaltigte Frauen, die Frauenhäuser bzw. Häuser für geschlagene Frauen, Kindersorgentelefon, der Weiße Ring u. ä.).

Bei einer statistischen Clusteranalyse, die alle wesentlichen Variablen dieser Untersuchung einbezog (S. 386 ff), stellte sich heraus, daß die angezeigten Sexualkontakte in drei Gruppen zu unterteilen sind (S. 406 ff):

1. Gruppe mit 57,1%

Diese zahlenmäßig größte Gruppe enthält die exhibitionistischen und vergleichsweise harmlosen erotischen sexuellen Kontakte mit eher jüngeren Opfern. Darunter sind all männlichen Opfer. Hier traten ganz selten Schäden auf.

[S. 520]

2. Gruppe mit 11,6%

Sie enthält intensivere Sexualkontakte mit mehr bekannten und verwandten Beschuldigten, bei eher sozial gestörten Elternhäusern der Opfer. Ein Teil der (nur weiblichen) Opfer dieses Clusters fühlte sich gar nicht geschädigt, ein anderer Teil lag im Durchschnitt der gesamten Untersuchung.

3. Gruppe mit 31,3%

In ihr sind sexuelle Nötigung, Vergewaltigung und Sexualkontakte mit starker emotionaler Abwehr durch das Opfer enthalten. Die (ausschliesslich weiblichen) Opfer waren älter, die Beschuldigten jünger als der Durchschnitt, die Anzeige erfolgte rasch. In diesem Cluster berichteten die Opfer die größten Schäden.

V. Folgerungen

Den ausschließlich weiblichen Opfern und Zeuginnen aus der Gruppe 3 und eventuell einem Teil aus Gruppe 2 muß in Zukunft mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden. Politische, präventive und sozialpädagogische Maßnahmen scheinen hier dringend notwendig zu sein.

Bezogen auf die Vorurteile, die gegenüber dem Sexualverbrecher, (S. 51 f) seiner Tat und dem Sexualopfer (S. 55 ff) bestehen, muß konstatiert werden, daß es das Sexualverbrechen nicht gibt. Vielmehr lassen sich drei Konstellationene deutlich voneinander unterscheiden. Bisher sind Verletzungen der Sexualnormen und sexuelle Gewaltdelikte bei uns immer noch in unzulässiger Weise vermischt. Gelichzeitig ist aus anderen Untersuchungen bekannt, daß in der Bevölkerung sehr ambivalente Einstellungen gegenüber der Anwendung sexueller Gewalt bestehen: Neben der formellen Ächtung sexueller Gewalt existiert unterschwellig und oft gelichzeitig eine stillschweigende Tolerierung. Sexuelle Gewalt ist, wie andere Gewalt auch, weit verbreitet (S. 473 ff). Sie ist, kriminologisch gesehen, mehr dem Bereich der Gewaltdelikte zuzurechnen als dem Bereich der Sexualdelikte (S. 406 ff).

Für die präventive Arbeit tauchen hier Probleme auf. In einer Gesellschaft, in der Gewaltanwendung häufig als legitimes Mittel zur Durchsetzung von Bedürfnissen angesehen wird, wo gewaltfördernde Denkstrukturen zu beobachten sind, dürfte es schwierig sein, sexuelle Gewaltanwendungen erfolgreich zu ächten. Dieser eher soziologische oder kriminalpolitische Problembereich kann wahrscheinlich nur als Ganzes angegangen werden.

Kurz- und mittelfristig ergibt sich aus den Ergebnissen dieser Längsschnittuntersuchung die dringende Notwendigkeit, gezielte Maßnahmen zur Verbesserung der Lage der Opfer von "Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung" zu ergreifen.

1. Differenzierung

Es sollte darauf hingewirkt werden, daß im allgemeinen Bewußtsein die drei hauptsächlichen Erscheinungsformen klar voneinander getrennt werden:

[S. 521]

a. exhibitionistische Handlungen,

b. relativ oberflächliche, gewaltfreie erotische und sexuelle Handlungen,

c. sexuelle Gewalthandlungen und Bedrohungen.

2. Entdramatisierung und Verdeutlichung

(S. 482 ff)

In diesem Zusammenhang sollte angestrebt werden, daß durch eine sachliche Aufklärung über die tatsächlichen Erscheinungsformen der Sexualkriminalität und ihre Folgen in einem Bereich (a und b) eine Entdramatisierung stattfindet, während der tatsächliche Gewaltcharakter der anderen Deliktarten (c) deutlicher ins Bewußtsein gehoben wird. Die Unterscheidung zwischen unangenehmen sexuellen Belästigungen und bedrohenden Gewaltattacken ist zum Schutz potentieller Opfer notwendig. Auch der Vorstellung von der sexualkriminellen Karriere ("Aus einem Exhibitionisten wird ein Vergewaltiger") muß deutlich widersprochen werden. Wenn sie sich strafbar machen, dann wiedeholen Exhibitionisten, Pädophile und Homosexuelle in der Regel die strafbaren Handlungen in ihrem jeweiligen Bereich. Die vorliegenden Ergebnisse zeigen, daß der Vergewaltiger mehr gemein hat mit anderen Gewalttätern, und daß die Vergewaltigungssituation eher anderen Gewaltsituationen ähnelt. Demgegenüber üben Exhibitionisten nur ganz selten Gewalt aus. Diese Aussage hat ganz wesentliche Folgen für Prävention, Repression, Opferschutz und Opferhilfe, weil auf gewalttätige und gewaltlose Delikte unterschiedlich reagiert werden muß. Die polizeiliche Arbeit kann effektiver und opferfreundlicher gestaltet werden, wenn diese Ergebnisse Eingang finden in die alltägliche Praxis.

3. Informieren der Zielgruppen

(S. 508 ff)

Die sachliche Beschreibung der Erscheinungsformen strafbarer Sexualkontakte, ihre Ursachen und Folgen sollte Eingang finden in:

  1. eine Verbesserung der Aus- und Fortbildung von Beamten, die beruflich mit Opfern in Kontakt kommen,
  2. eine qualifizierte kriminalpolizeiliche Beratungstätigkeit, die zutreffende kriminologische Beschreibungen der Sexualkriminalität an Personen mit pädagogisch fundierter Multiplikatorenwirkung weitergibt,
  3. eine sachliche Diskussion über strafrechtliche Bestimmungen,
  4. allgemeine Öffentlichkeitsarbeit,
  5. eine wissenschaftlich fundierte Sexualpädagogik,
  6. eine anzustrebende Information, Aus- und Weiterbildung von Eltern und Erziehern.

4. Koordination

Es sollte angestrebt werden, daß verschiedene Institutionen, die mit dem Sexualopfer befaßt sind, besser zusammenarbeiten. Beispielsweise ist dem Opfer selten und [S. 522] Sachbearbeitern nur manchmal bekannt, daß es in vielen Städten bereits qualifizierte Beratungsstellen gibt, die das Opfer in der Krisensituation unterstützen können, wie z.B. Psychologische Beratungsstellen, Sexualberatungsstellen, "pro familia", Notruf für vergewaltigte Frauen, Frauenhaus, Sorgentelefon für Kinder und Jugendliche, Telefonseelsorge, "Weißer Ring" und viele andere. Der Sachbearbeiter, der das Opfer z.B. als erster in seiner Opferrolle erlebt, weiß in der Regel nicht, welche der Institutionen im jeweiligen Einzelfall am besten helfen könnte. Hier mangelt es an einem kooperierendem Informationsaustausch (S. 508 ff).

Bei allen opferunterstützenden Maßnahmen muß streng darauf geachtet werden, daß das Opfer nicht als kranke Person behandelt wird. Eine Psychiatrisierung des Opfers würde beispielsweise eine neuerliche (strukturelle) Viktimisation bedeuten. Ziel opferunterstützender Maßnahmen sollte die Reintegration des Opfers sein, weil es analog dem zu resozialisierenden Täter oftmals Unterstützung benötigt. Ziel einer solchen Reintegration sollte die Stärkung bzw. Wiedergewinnung des Selbstbewußtseins des Opfers sein und möglicherweise die Wiederherstellung des sozialen Friedens zwischen Opfer und Täter über den Weg der Wiedergutmachung. Opferunterstützende Maßnahmen haben jedoch nur einen Sinn, wenn sie gekoppelt sind mit Öffentlichkeitsarbeit, die sich gegen die strukturelle Viktimisation wendet und damit individuelle Viktimisierungen zukünftig verhindern will (präventiver Aspekt) (S. 473 ff). Für die Öffentlichkeitsarbeit, die Unterstützung des Opfers und die Fortbildung der Beamten sind einige Maßnahmen notwendig, die in der Bundesrepublik Deutschland bisher allerdings noch keinen organisatorischen Rahmen haben (S. 505 ff):

  1. Wissenschaftliche Untersuchung des Phänomens der sexuellen Gewalt (viktimologische Analyse der sexuellen Gewaltsituation als Kommunikation zwischen Täter und Opfer, psychosoziale Analyse der strukturellen Viktimisation);
  2. Öffentlichkeitsarbeit, um das Problem der sexuellen Gewalt zu verdeutlichen;
  3. Rückmeldung von opferunterstützenden Einrichtungen and die Mitarbeiter der Behörden;
  4. Erarbeitung von entsprechenden Lehrplänen zur Ausbildung von Sachbearbeitern, die Kontakt haben mit stark geschädigten Opfern;
  5. viktimologische Fortbildungsangebote für die zuständigen Sachbearbeiter in den Behörden;
  6. Beitrag zur opferfreundlichen Kooperation der verschiedenen Institutionen und Beratungseinrichtungen untereinander;
  7. Information an das Gewaltopfer in der Krisensituation und Hinweis auf bestehende Einrichtungen;
  8. Untersuchungen über die Auswirkungen der Gerichtsverhandlung, des Urteilsspruchs und der damit zusammenhängenden Probleme auf das Opfer;
  9. Initiierung einer streng rational gestalteten Diskussion über die Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung (Sexualstraftaten), auch insbesondere im Hinblick auf die fällige Strafrechtsreform.