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Haveman R.
Liberalisierung der Sexualgesetzgebung in den Niederlanden
und Deutschland
MschrKrim 75.Jahrgang, Heft 2/3 (1992)
[...]
Für diese theoretische Analyse will ich eine im Jahr 1980 vom
Europarat herausgegebene Studie über Kriminalisierung und
Dekriminalisierung verwenden, den sogenannten
Report on Decriminalisation. In diesem Report on
Decriminalisation wird nämlich ein Konzept präsentiert,
gemäß welchem eine Debatte über Dekriminalisierung - und
natürlich auch Kriminalisierung - geführt werden sollte.
Zuerst macht man einem Unterschied zwischen de jure und
de facto-Dekriminalisierung.
De jure Dekriminalisierung
Bedeutet nun eine solche Streichung aus dem Strafgesetz, daß von
dem Moment an nichts mehr gegen die bis dann unter Strafe gestellten
Kontakte unternommen werden kann?
...
Und wenn Sie der Meinung sind, daß sexuelle Kontakte zu 14- und
15jährigen nicht ins Strafgesetz gehören, bedeutet das dann
gleichzeitig auch, daß Sie allen sexuellen Kontakten zu diesen
Kindern zustimmen?
Die Antwort ist ganz sicher nicht zwingend. ... Damit komme ich
wieder zurück auf den Report on Decriminalisation. Darin wird die
de jure-Dekriminalisierung in drei Hauptkategorien eingeteilt, jede
mit ihrer eigenen Argumentation.
- Erstens kann sich die Dekriminalisierung auf die
völlige juristische und gesellschaftliche Anerkennung von bis dahin
unter Strafe gestellten Verhaltens richten (Typ A Dekriminalisierung). Davon kann zum Beispiel im Fall von der
Streichung des Homo-Paragraphen gesprochen werden. [...]
Argumente pro Dekriminalisierung lauten in diesem Zusammenhang zum
Beispiel: Es ist noch gar nicht so lange her, daß sexuelle Kontakte zu
Kindern strafbar sind, das heißt, erst seit hundert Jahren; und in
anderen Kulturen wird Sexualität mit Kindern durchaus akzeptiert. Die
Sexualität eines Kindes und mit einem Kind ist nicht mehr als normal.
- Der zweite Grund um für Dekriminalisierung zu
plädieren, liegt in einer veränderten Auffassung gegenüber der Rolle
des Staates. Es geht dabei nicht so sehr um eine völlige juristische
und gesellschaftliche Anerkennung, sondern um die Meinung, daß der
Staat auf diesem Gebiet keine Rolle mehr zu spielen hat (Typ B Dekriminalisierung).
In diesen Rahmen paßt zum Beispiel die vielgehörte
Bemerkung, daß der Staat kein Sittenrichter ist und daß die
Obrigkeit sich nicht mit dem Sexualleben seiner Untertanen
beschäftigen sollte. Über die Zulässigkeit sexueller
Kontakte zwischen Erwachsenen und Kindern müssen die direkt
Betroffenen selbst entscheiden: das Kind, der Erwachsene und
eventuell die Eltern des Kindes. [...]
- Drittens gibt es Menschen, die für
Dekriminalisierung plädieren, und zwar nicht, weil sie sexuelle
Kontakte mit Kindern unbedingt billigen, und auch nicht, weil sie
finden, daß der Staat hierbei keine Rolle mehr spielen sollte, sondern
- sie plädieren für Dekriminalisierung, weil sie eine andere Reaktion
auf das Verhalten für wünschenswerter halten, von seiten des Staates
oder der direkt Betroffenen (Typ C
Dekriminalisierung).
In diesem Zusammenhang wird insbesondere auf die negativen
Effekte einer strafrechtlichen Reaktion hingewiesen, zum Beispiel die
Schädlichkeit des Polizeiverhörs, der geringe Effekt einer
Freiheitsstrafe auf den Täter usw. Der Schaden, den das
strafrichtliche System anrichtet, - die Kosten also - werden für
größer gehalten als der Nutzen, den eine strafrechtliche
Reaktion einbringt. Außerdem wird auf bessere,
nicht-strafrechtliche Reaktionsalternativen hingewiesen.
[...]
Der Report on Decriminalisation nennt fünf notwendige
Bedingungen, um ein bestimmtes Verhalten zu kriminalisieren oder um
es - wenn es schon unter Strafe gestellt ist - strafbar zu halten. Es
handelt sich dabei ausdrücklich um notwendige und nicht etwa nur
um ausreichende Bedingungen. Es sind Mindestanforderungen, die
zumindest erfüllt sein müssen, um ein bestimmtes Verhalten
unter Strafe zu stellen; fünf notwendige Bedingungen, die im Fall
sexueller Kontakte mit Kindern erfüllt sein müssen, um diese
als Straftat ins Strafgesetzbuch aufzunehmen.
- Zuerst muß selbstverständlich die Situation oder der
Vorfall, worin das Verhalten zum Ausdruck kommt, für problematisch
oder unerwünscht gehalten werden. Das ist eine Diskussion für
sich. Denjenigen, die jeden sexuellen Kontakt zwischen einem
Erwachsenen und einem Kind als sexuellen Mißbrauch bezeichnen,
stehen diejenigen gegenüber, die nur die Vorfälle als
unerwünscht bezeichnen, in denen das Kind nicht frei war, sich dem
sexuellen Kontakt zu entziehen. [...]
- Als zweite Bedingung wird genannt, daß die problematische
Situation oder der problematische Vorfall zumindest zum Teil auf
individuelles Verhalten zurückzuführen sein muß [...]
Davon kann im Fall Sexueller Kontakte zu Kindern bestimmt gesprochen
werden. [...]
- Die dritte notwendige Bedingung zur Kriminalisierung eines
bestimmten Verhaltens ist, daß es keine besseren,
nicht-strafrechtlichen Alternativen gibt oder sie nicht denkbar sind,
um auf die für problematisch gehaltenen Vorfälle zu reagieren.
Wenn es solche Alternativen gibt, verdienen sie den Vorzug. Im Grunde
handelt es sich hierbei um eine Ausarbeitung des alten Prinzips,
daß das Strafrecht das ultimum remedium ist, das heißt
das letzte Rettungsmittel, wenn alle anderen Möglichkeiten keine
Lösung mehr bieten. Auf diesem Punkte komme ich noch
ausführlich zurück.
- Als vierte notwendige Bedingung verlangt der Report, daß das
strafrechtliche System zumindest einen Teil der für problematisch
gehaltenen Situationn und Vorfälle bewältigen kann. Ist aum
Beispiel das strafrechtliche System überhaupt imstande, die
Vorfälle ausfindig zu machen? Und hat es dann noch die
Kapazität, um alle Täter zu bestrafen?
- Als letzte Bedingung wird im Report vorausgesetzt, daß die
gesellschaftlichen Kosten der Kriminalisierung nicht den Nutzen
übersteigen dürfen; mit anderen Worten eine gesellschaftliche
Kosten/Nutzen-Analyse. Wieviel kostet eine Gefängniszelle? Was
sind die Kosten, nur finaziell Meßbares oder auch Auswirkungen auf
die Familie des Täters oder auf das Kind?
Erst wenn alle diese fünf Bedingungen erfüllt sind, darf an
eine Kriminalisierung des bestimmten Verhaltens gedacht werden. Aber
auch dann kann es noch Gründe geben, nicht zu kriminalisieren.
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Nicht-strafrechtliche Alternativen
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Kontaktverbot
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Schadenersatz-Forderung
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Civil Protection Order
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Therapeutische Behandlung
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Toleranz
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