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Bleibtreu-Ehrenberg G.

Vorwort

in: Sandfort, Pädosexuelle Erlebnisse

Pädophilie und ihre gleichgeschlechtliche Form "Päderastie" sind die am wenigsten wissenschaftlich untersuchten sexuellen "Deviationen" überhaupt. Dem ist so, weil sich in ihnen das allgemeine Sexualtabu als eine Grundkomponente der abendländischen Ethik immer noch am intensivsten auswirkt.

Diese traditionelle Leibfeindlichkeit geht in unserer Kultur auf vorchristliche Philosophen und die Denker des Späthellenismus zurück, die den Apostel Paulus stark beeinflußt haben. Hinweise auf Leibfeindlichkeit finden sich übrigens in den vier Evangelien nicht. Das mosaische Sittengebot: "Du sollst nicht beim Knaben liegen wie beim Weibe, denn das ist Gott ein Greuel!" bezieht sich auf die (als solche sowohl hetero- wie homosexuelle) Kultprostitution der Baals-Kulte, von denen das junge Vold der Israeliten räumlich und kulturell umgeben gewesen war, nachdem es die Wüste hinter sich gelassen hatte; Baale waren jedoch hinsichtlich der monotheistischen Jahwe-Religion Abgötter (...). Paulus, der vor seiner Bekehrung zum christlichen Glauben orthodoxer Jude war, hatte diese Gebote selbstverständlich internalisiert, und die Urgemeinde, die vor Paulus' Auftreten Züge einer jüdischen Sekte aufwies, hat sicherlich unhinterfragt die gleiche Meinung gehegt.

Dualistisch-leibfeindliche Tendenzen, die primär aus dem persischen Zoroastrismus und der davon beeinflußten Gnosis stammten und das Denken der griechischen Spätantike beeinflußten, hatten in der Vorstellungswelt des hochgebildeten Apostels ihre Eindrücke hinterlassen und finden noch bei patristischen Schriftstellern bis zum sechsten Jahrhundert n.Ch. (etwa im Origenismus) ihr Echo. Durch Paulus' Missionsarbeit waren genuin christliche Forderungen mit Sittengeboten aus dem alten mosaischen Kodex sowie asketischen Idealen des Heidentums so untrennbar ineinandergeflossen, daß Leibfeindlichkeit seither zu einer wesentlichen Komponente christlicher Moralität geworden ist. Ihr gegenüber und der Idealisierung von Askese schlechthin hat man sogar überaus häufig primäre Anliegen der christlichen Religion als eines Glaubens der Gotteskindschaft und der Nächstenliebe hintangestellt.

In Patristik und später Scholastik sowie in der praktischen Moraltheologie bis weit un dies Jahrhundert hinein wird Sexualität durchaus als Übel eingestuft und nur geduldet, sofern zur Zeugung angewandt. Doch selbst in dem Fall ist sie gut lediglich als Mittel zum Zweck, nicht aber als Lebensäußerung sui generis. Absolute Asexualität ("Keuschheit") gilt als geeignete Haltung, um Gott näherzukommen; doch nicht nur Sex, aus "Gelüste des Fleisches" schlechthin (wozu etwa die Freude an gutem Essen gehört) zählen zu all jenen "Versuchungen", die vom geraden Weg zu Gott leicht abbringen können.

Wo allerdings Sexualität nur dann als tolerabel gilt, wo sie zur Zeugung dient, sucht man Kinder [...] davon fernzuhalten. [...] Das oft verblüffend frühe Ehealter im Mittelalter zeigt zudem, das Sexualität etwas mit Status zu tun gehabt hat: Nicht ein bestimmtes Alter machte ehereif, sondern reif zur Ehe und damit zur Ausübung von Sexualität wurde man, sobald man im sozialen Gefüge einen bestimmten, festdefinierten Rang eingenommen hatte.

Im Spätmittelalter und beginnender Neuzeit stellt die Angst vor einer Infektion mit der neuen Krankheit Syphilis eine weitere (und oft übersehene)Motivation zur Keuschheitsforderung besonders an sehr junge Menschen dar, worin damals die einzig mögliche Schutzmaßnahme gegen die noch unheilbare Krankheit bestand; ähnliche Überlegungen ruft heute das Auftreten von AIDS hervor: moralische und seuchenhygienische Prävention gehen eine sachlich ungerechtfertigte Symbiose ein. So gewinnt "Unschuld" im Sinne sexueller Unberührtheit unversehens auch eine begriffliche Nähe zur "Gesundheit" im Sinne körperlicher Unversehrtheit; Vorstellungen, die durch falsche, weil wort-wörtliche Bibelexegese scheinbar Stützung fanden: "... der Tod ist der Sünde Lohn ..."

Im Zuge der Aufklärung wird Religion selbst als "Vorurteil entlarvt - begrifflich ein Unding; leibfeindliche Vorurteile [...] persistieren jedoch und fanden alsbald neue, sozusagen zeitgemäßere, nämlich säkularisierte "Begründungen".

Das klassische Beispiel für diese Entwicklung ist Rousseau. Für ihn bedeutet kindliche Sexualität "Entartung", weshalb man nach seinem Erziehungskonzept vom Kind so lange wie möglich (am besten noch über das 18. Lebensjahr hinaus!) alles an Sexualität auch nur entfernt Gemahnende tunlichst fernhalten soll. Wir wissen zwar spätestens seit Freud, daß Kinder keine asexuellen Wesen sind, doch der Einfluß Rousseaus wirkt bis heute weiter: mittlerweile erlauben wir Kindern zwar Selbstbefriedigung und "Doktorspiele" mit anderen (gleichfalls "unschuldigen") Kindern; versuchen sie aber, etwas über Sexualität oder direkt über sexuelle Praktiken von denjenigen zu lernen, von denen sie doch das meiste übrige zu lernen pflegen, nämlich von Erwachsenen, dann empfindet die Mehrheit der Bevölkerung das als Entweihung kindlicher "Reinheit", geht davon aus, daß hierbei untilgbare Schäden entstehen (körperliche, seelische, soziale - und wenn derlei nicht nachweisbar ist, dann "spätere") und leugnet strikt die Möglichkeit, daß bei solchen Kontakten die Kinder selbst aktiv interessiert sein könnten. [...]

[...]

Als die hier in deutscher Übersetzung erscheinende Studie 1981 in den Niederlanden publiziert worden was, wurde sie von zahlreichen Tageszeitungen interessiert aufgenommen und größtenteils begrüßt; die Berichterstattung war durchweg neutral. Bei einem round-tabe-Gespräch im April des Erscheinungsjahres waren zahlreiche Vertreter der Presse, des öffentlichen Lebens und der Wissenschaft anwesend und diskutierten die Untersuchungsergebnisse Sandforts in aufgeschlossener Weise. Von den englischsprachigen Rezensionen seien eine positive und zwei negative hier genannt und inhaltlich referiert, zumal vergleichbare Kritiken sicher auch bei uns erfolgen werden.

[...] Nach Ansicht der Autorin der referierten Kritik, Camilla Decarnin, könnte Sandforts Studie für die Beziehungen von heranwachsenden Jungen zu erwachsenen Männern das tun, was Johnson/Masters "did for the clitoris". So beklagenswert sei der Stand des Wissens um den fraglichen Problembereich, daß hier die wichtigste Frage hier die gewesen wäre, ob wirklich die Möglichkeit bestünde, daß solche sexuelle Beziehungen überhaupt je irgend "positiv" zu sein vermöchten. Diese Frage bejahe die Untersuchung, ohne dabei den Aspekt der sexuellen Beziehungen zu idealisieren. [...]

[zur Kritik von Mrazek 1985]

[zur Kritik von Masters/Johnson/Kolodny 1985]

[...]

[...] Dieses Vorwort würde der Aufgabe, in Sandforts Studie objektiv einzuführen, jedoch nicht gerecht, wenn nicht zum Schluß noch prinzipiell auf dasjenige Kritikerargument eingegangen würde, das teils ausgesprochen, teils mehr indirekt tatsächlich Grundlage der negativen Einstellung zu der vorliegenden Untersuchung ist: Nämlich der Umstand, daß hier jemand die Stirn gehabt hat, etwas zu untersuchen, das die Polizei verbietet. [...] Deshalb für alle Leser und präsumptiven berufenen oder auch nur selbstbestellten Fachleute der Hinweis, daß es nicht verboten ist, Verbotenes zu untersuchen, und man dadurch nicht automatisch Mitglied einer "kriminellen Vereinigung" wird [...]

Verbotene Sexualität wissenschaftlich zu untersuchen und so transparenter zu machen und des Tabucharakters zu entkleiden, ist unter den obwaltenden gegenwärtigen Verhältnissen nicht nur in der reinen Durchführung kompliziert, sondern es erfordert nicht zuletzt schlicht Mut. Theo Sandfort hat ihn bewiesen